Interview mit Ulrike Schildmann als PDF
Wie bist du zur integrativen Pädagogik gekommen?
Studium Diplom-
Pädagogik
Zur Integrationspädagogik bin ich – zunächst als interessierte Beobachterin – relativ früh während meines Studiums gekommen. Ich habe damals (1971–1976) an der Pädagogischen Hochschule Berlin in dem gerade eingerichteten Pädagogik-Diplomstudiengang studiert: Hauptfach Erziehungswissenschaften, Schwerpunktfach Sonderpädagogische Einrichtungen, Nebenfächer Psychologie und Soziologie. Dabei war für mich eines ganz klar: Ich wollte nicht Lehrerin werden, aber dennoch Pädagogik studieren und mich für andere pädagogisch relevante Felder qualifizieren. Was mich direkt nach dem Abitur vor allem interessierte, war eine kritische Auseinandersetzung mit dem (west-)deutschen Bildungssystem. Das hatte einen sehr persönlichen Grund.
Studienmotivation
Als Mädchen – aus der Arbeiterschicht, vom Lande, mütterlicherseits (vor meiner Geburt) mit einem innerdeutschen Flüchtlingshintergrund – kam ich nach dem Besuch einer Mädchen-Realschule, also nach der Mittleren Reife, in die Oberstufe eines geschlechtergemischten Gymnasiums, um dort das Abitur zu machen. Die Schuljahre dort habe ich als sehr widersprüchlich erlebt, für mich auch in verschiedener Hinsicht als sehr negativ. Damit wollte ich mich nach dem bestandenen Abitur dringend auseinandersetzen. Das andere, wofür ich mich, biografisch motiviert, sehr interessierte und was auch mit der Pädagogik gut zu vereinen war, war eine intensivere Auseinandersetzung mit Normalität, Krankheit und Behinderung. Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzungen kam ich aber auch bald, das fand ich sehr gut, mit innovativen Entwicklungen innerhalb des Bildungswesens in Berührung: mit der Gesamtschulentwicklung und mit der Integrationspädagogik.
Gesamtschule und Konstruktion von Behinderungen
Es war ja zu der Zeit (um 1970) so, dass das Thema Integration unter anderem eine Rolle in der Gesamtschulentwicklung spielte, wobei es um die schulische Integration der lernbehinderten und verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen ging, von denen AutorInnen wie Helga Deppe sagten, diese Gruppen würden überhaupt erst im Schulsystem produziert, und deshalb sei auch das Schulsystem dafür verantwortlich, das zu verhindern, unter anderem durch solche Gesamtschulkonstruktionen. In diesem Zusammenhang habe ich auch schon damals an der PH Berlin als einen der Professoren Ulf Preuss-Lausitz kennengelernt. Bei ihm habe ich meine Diplomarbeit geschrieben.
Kritik der Sonderpädagogik
In der Sonderpädagogik, für die ich mich im Rahmen des Studiums auch schon vom Grundstudium an interessiert habe, lernte ich die damals einsetzende »Kritik der Sonderpädagogik« als innovativ und für mich weiterführend kennen. 1973 erschien ein erstes Buch unter genau diesem Titel (Johanna Aab, Susanne Graf u. a. Marburger und Gießener Pädagogen, zu denen auch Wolfgang Jantzen mit seinem Buch Sozialisation und Behinderung [1974] gehörte). Für meine eigene Positionierung in der Sonderpädagogik war diese kritische Strömung ungeheuer wichtig, um selbst eine differenzierte Haltung gegenüber der an der PH Berlin vertretenen sehr traditionellen Sonderpädagogik entwickeln zu können.
Integrationsklassen an der Fläming-Schule
Und in der pädagogischen Praxis kam die Entwicklung der Integrationspädagogik meinen Vorstellungen entgegen: Ab 1973 wurden in Berlin – in der Tradition der Kinderladenbewegung –die ersten integrativen Kindergartengruppen für behinderte und nicht behinderte Kinder im Kinderhaus Friedenau eröffnet. Zur Weiterführung des Konzeptes in der Schule entstand dann 1976 die erste Integrationsklasse an der Fläming-Grundschule. Diese Entwicklung, die am Sonderpädagogischen Institut der PH Berlin kritisch betrachtet und kommentiert wurde, konnte ich gemeinsam mit anderen StudentInnen von Anfang an verfolgen und gewissermaßen miterleben. In diesem Zusammenhang habe ich damals auch an der PH schon den Namen Jutta Schöler zur Kenntnis genommen, sie aber noch nicht persönlich gekannt.
Berufliche
Rehabilitation
Meine Diplomarbeit (1976) führte mich von der Integrationspädagogik aber noch einmal weg. Sie befasste sich mit dem (für mich u. a. biografisch relevanten) Feld der beruflichen Rehabilitation: »Zur politischen und ökonomischen Funktion der Beruflichen Rehabilitation Behinderter in der Bundesrepublik und West-Berlin« (Betreuer und Gutachter: Ulf Preuss-Lausitz).
Behinderte Frauen
Im Rahmen dieser Arbeit stieß ich auf ein Thema, das sich für ein Promotionsprojekt anbot: Die soziale Lage behinderter Frauen, ein Aspekt, der damals aus der beruflichen Rehabilitation rigoros ausgeblendet wurde. Motiviert durch die Frauenbewegung der 70er Jahre habe ich versucht, »Weibliche Lebenszusammenhänge und Behinderung« auf unterschiedlichen Ebenen theoretisch und empirisch zu analysieren, beeinflusst durch Wolfgang Jantzen und Barbara Rohr und deren Doktoranden-Colloquium in Bremen (Promotion bei Barbara Rohr 1982). In diesem Rahmen lernte ich auch Georg Feuser kennen, der sich in seiner Professur an der Universität Bremen ab circa 1981 auf die Integrationspädagogik konzentrierte. Selbst in der Integrationspädagogik wissenschaftlich aktiv geworden bin ich erst nach meiner Promotion und einer fünfjährigen Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin am Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin (Gesundheitssystemanalyse/Medizinsoziologie, 1978–1983).
Island:
Gastdozentin
Erst danach konnte ich die Integrationspädagogik intensiver mitgestalten, zunächst in einem internationalen Zusammenhang: Als Gastdozentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) habe ich 1984 an der Universität von Island in Reykjavík die Fächer Behindertenpädagogik und Medizinsoziologie gelehrt (es folgte ein weiteres Jahr der Forschung und Lehre in Island 1986/87). Das war für mich eine gute Gelegenheit, die – (anders als das Normalisierungsprinzip) damals in Island noch recht unbekannte – Integrationspädagogik systematisch in die universitäre Lehre einzubeziehen. Ich lernte dort relativ schnell die Kollegin Dóra S. Bjarnason von der Pädagogischen Hochschule Islands kennen, die als Soziologin und Mutter eines behinderten Sohnes seitdem die Integrationspolitik und -pädagogik ihres Landes mitgestaltet und beeinflusst hat.
Integration im Kindergarten
Wir haben zuerst einen ausgewählten integrativen Kindergarten in Reykjavík wissenschaftlich begleitet und auf dieser Basis eine quantitative Befragung aller Kindergärten in Reykjavík zum Thema »Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindergarten« durchgeführt. Dabei haben wir uns zum Teil durch die ersten wissenschaftlichen Begleitarbeiten zu den integrativen Kindergärten in Bremen motivieren und von Georg Feuser beraten lassen.
Studie zur Arbeit von Erzieherinnen in Integrationskitas
Zurück in Berlin, habe ich (auf einer einjährigen Projektstelle) unter Leitung von Marion Klewitz und Gertrud Pfister an der FU Berlin einen Forschungsschwerpunkt vorbereitet, der sich mit der »Geschichte und Soziologie von Frauenarbeit« befasste, und konnte nach dessen Bewilligung – neben anderen (Nachwuchs-)WissenschaftlerInnen – mein Interesse an der Forschung über integrative Pädagogik nutzen und eine qualitative Studie zur »Arbeit von Erzieherinnen in integrativen Kindergärten« in West-Berlin (1986) durchführen. Für die integrativen Kindergärten in Berlin war das die Zeit, in der quasi die Initiativphase und die Modellphase gerade einmal abgeschlossen waren und die Integrationsgruppen zur Regel werden sollten (vgl. Berliner Senatsbeschluss 1986). Für die damals circa 2.000 behinderten Kinder, die in Kindertagesstätten betreut wurden, sollten laut diesem Beschluss etwa 1.000 Plätze in Integrationsgruppen bereitgehalten werden. Damit fiel meine Studie, in deren Rahmen ich offene Interviews mit 28 Erzieherinnen aus 9 Integrationskitas durchführen konnte und damit circa 60 % der in solchen Gruppen beschäftigten Erzieherinnen erreichte, in eine Zeit, die für die Integrationspädagogik hoch interessant war.
Vorschulische Integration
Mein Schwerpunkt in der Integrationspädagogik lag also zunächst auf der vorschulischen Integration behinderter und nicht behinderter Kinder, unter anderem motiviert durch den Slogan »Integration von Anfang an«, den die Elternbewegung für Integration geprägt hat und dem auch der von Jutta Schöler favorisierte Begriff der »Nichtaussonderung« entsprach. Mich hat also damals vor allem der Elementarbereich des Bildungswesens interessiert und mit diesem die Gruppe der Erzieherinnen, nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei diesem Beruf um einen traditionellen Frauenberuf handelt, dem mit der frühkindlichen Bildung hohe gesellschaftliche Relevanz zukommt, der jedoch, bedingt durch die hierarchischen Strukturen der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, gesellschaftlich extrem unterbewertet wird. Das war für mich persönlich der Anfang im Kontakt mit der integrativen Pädagogik. Aber natürlich habe ich in den 70er und 80er Jahren auch die in Schulen durchgeführten Begleitforschungen aufmerksam zur Kenntnis genommen, selbst wenn ich mich vom Feld der Schule, wie beschrieben, immer ein bisschen abgegrenzt habe. Im engeren Sinne bin ich erst Mitte der 80er Jahre auf dem Gebiet der Integrationspädagogik forschend tätig geworden und zwar zunächst im vorschulischen Bereich.
Vorbilder
Wenn es nun im Folgenden um die Frage nach MitstreiterInnen geht, dann muss ich vorausschicken, dass ich anfänglich eher Vorbilder als MitstreiterInnen hatte. Ein Vorbild in der Integrationspädagogik war für mich auf jeden Fall Ulf Preuss-Lausitz, auch Helga Deppe war mir von Anfang an bekannt; Georg Feuser kam Anfang der 80er Jahre dazu.
MitstreiterInnen
Mitstreiterin im engeren Sinne wurde für mich in den 80er Jahren erst einmal Dóra S. Bjarnason in Reykjavík, mit der – auch unter Mitwirkung von Rannveig Traustadóttir – ich mein erstes empirisches Integrationsprojekt durchgeführt habe. Ein anderer Mitstreiter kam Anfang der 90er Jahre hinzu, Reinhard Völzke, mit dem zusammen ich die in den 80er Jahren erhobenen qualitativen Erzieherinnen-Interviews (s. o.) nochmals neu, und zwar unter biografisch narrativen Aspekten, analysiert habe. Ihn habe ich 1990 kennengelernt, als er gerade sein Studium an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum beendete und sich dort in der Biografieforschung mit narrativen Interviews qualifiziert hatte. Diese Kooperation spiegelt sich in unserem gemeinsamen Buch Integrationspädagogik: Biografische Zugänge. Berufliche Werdegänge von Erzieherinnen in Kindergartengruppen für behinderte und nichtbehinderte Kinder wider. Weitere Mitstreiterinnen im engeren Sinne kamen ab Mitte der 90er Jahre an der Universität Dortmund (heute TU Dortmund) hinzu, vor allem meine wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Bettina Bretländer und Sabine Lingenauber, die beide selbst seit einigen Jahren Professuren für Integrationspädagogik an zwei Fachhochschulen (Frankfurt und Fulda) innehaben. In Dortmund hatten wir auch, solange ich dort tätig war (1996–2014) einen Arbeitskreis Integrationspädagogik (anfänglich z. B. mit Petra Gehrmann und Birgit Hüwe sowie Claudia Nagode und durchgängig mit Eva Krebber-Steinberger). Dort ging es im Wesentlichen darum, der Integrationspädagogik einen angemessenen Raum in unserer Fakultät Rehabilitationswissenschaften zu verschaffen, was, wie auch an manchen anderen Sonderpädagogischen Fakultäten bzw. Instituten, ein schwieriges Unterfangen blieb.
Theorieentwicklung
Meine eigenen Interessenschwerpunkte in der integrativen/inklusiven Pädagogik haben sich mit meiner Tätigkeit als Professorin ab 1990 im Zusammenhang von Lehre und Forschung letztlich in Richtung Theorieentwicklung verlagert, wobei mir daran gelegen war, immer auch die Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht im Blick zu behalten. In meinem Habilitationsprojekt, das ich erst in den 90er Jahren abgeschlossen habe, bevor ich von der Fachhochschul- bzw. Gesamthochschulprofessur in Bochum bzw. Siegen an die Universität Dortmund wechselte, habe ich die Geschlechterdimension in der Integrationspädagogik bearbeitet, das heißt, vorhandene empirische Arbeiten ausgewertet und den Versuch einer theoretischen Grundlegung dieser Forschungsperspektive unternommen.
Kumulative Habilitation: Geschlechterdimension und Integrationspädagogik
Die Habilitation fand 1995 an der TU Berlin statt. Begutachtet wurden meine Arbeiten, die ich, wie gesagt, unter der Perspektive der Geschlechterdimension in der Integrationspädagogik zusammengefasst habe, von Ulf Preuss-Lausitz und Annedore Prengel, die ja in ihrer »Pädagogik der Vielfalt« (1993) die drei Reformströmungen der feministischen, interkulturellen und integrativen Pädagogik strukturell verglichen hatte. Was mich auf dieser Basis interessierte, war die analytische Zusammenführung zweier dieser Reformströmungen in Gestalt der Geschlechterdimension in der Integrationspädagogik. Die Habilitation als solche war kumulativ angelegt, wobei vor allem auch die oben genannte Erzieherinnen-Untersuchung in das Gesamtprojekt einfließen sollte.
Normalisierungsprinzip und Integrationspädagogik
Der Habilitationsvortrag schließlich beschäftigte sich mit einem kritischen Vergleich zwischen den beiden Reformströmungen »Normalisierungsprinzip« und »Integrationspädagogik«, die sich in Deutschland seit den 70er Jahren parallel zueinander entwickelt hatten, ohne sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten im engeren Sinne inhaltlich und personell zu überschneiden. In diesem Zusammenhang wurde mir auch klar, dass für beide Reformströmungen – insbesondere aber für das Normalisierungsprinzip – das Verhältnis zur gesellschaftlichen Normalität nicht geklärt war, unter anderem deshalb, weil die VertreterInnen des Normalisierungsprinzips, neben Niels-Erik Bank-Mikkelsen (Dänemark), Bengt Nirje (Schweden) und Wolf Wolfensberger (USA) auch Walter Thimm (Deutschland), eine vertiefende theoretische Auseinandersetzung mit Normalität ablehnten und sich stattdessen auf das Normalisierungsprinzip als Praxisbewegung konzentrieren wollten. Aber wenn ich mich mit Normalisierung beschäftige, dann orientiere ich mich doch irgendwie an Normalität, auch wenn ich diese nicht als solche definiere und analysiere. Als schließlich Anfang der 90er Jahre in der Integrationspädagogik, die lange Zeit eine normalitätskritische Haltung eingenommen hatte, der Slogan die Runde machte »Es ist normal, verschieden zu sein«, ohne jede kritische Normalitätsanalyse, da war mein Interesse an einer solchen Analyse endgültig geweckt, und der Rahmen des Habilitationsvortrages erschien dafür als geeignet.
Interdisziplinäre Forschungsgruppe (TU Dortmund) – Bereich Normalität, Geschlecht, Behinderung, Heterogenität
Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Normalität war damit aber nicht abgeschlossen. Kurze Zeit nach meinem Wechsel von der Universität-Gesamthochschule Siegen an die Universität (heute TU) Dortmund auf die Professur für »Frauenforschung in der Behindertenpädagogik« (1996) erhielt ich von dem Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker Jürgen Link die Einladung, gemeinsam mit ihm und weiteren Dortmunder Professoren eine interdisziplinäre Forschungsgruppe zur »Normalismusforschung«, in der Link selbst damals bereits ausgewiesen war, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu beantragen. Mein Forschungsfeld sollten dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Normalität, Behinderung und Geschlecht sein. Vor dem Hintergrund des von Link verfassten Werkes Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (1997) schien mir ein solches Projekt durchführbar zu sein. Der Fokus meines wissenschaftlichen Teilprojektes (1998–2001/04) sollte einerseits auf den Umgang mit Normalität, Behinderung und Geschlecht in der Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik (vgl. Weinmann, 2003) gelegt werden und andererseits auf moderne Strömungen dieser Fachdisziplin, darunter die kritische Behindertenpädagogik und die Integrationspädagogik (vgl. Lingenauber, 2003; Schildmann, 2004). Während Sabine Lingenauber die Werke (1970–2000) der Integrationspädagogen Hans Eberwein und Georg Feuser untersuchte, in denen Verhältnisse zwischen Normalität und Behinderung durchgängig verhandelt wurden (die Kategorie Geschlecht dagegen keine Rolle spielte), konnte ich selbst die Werke zweier Autorinnen analysieren, die den Gesamtkomplex von Normalität, Behinderung, Geschlecht durchgängig reflektierten: das Werk (1972–2000) der kritischen Behindertenpädagogin Barbara Rohr und das Werk (1978–2000) der Integrationspädagogin Annedore Prengel. Für die Integrationspädagogik konnten wir also Ergebnisse zum Umgang mit Normalität, Behinderung (und Geschlecht) vorlegen und miteinander vergleichen.
Intersektionalitätsforschung
Im Anschluss daran befasste sich (2005–2013) mein letzter großer Forschungskomplex, den auch die DFG (2010–2013) gefördert hat, mit dem für die integrative/inklusive Pädagogik relevanten Thema »Umgang mit Heterogenität – Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der gesamten Lebensspanne«. In diesem Zusammenhang wurde für mich die Intersektionalitätsforschung relevant, zwischen Behinderung und anderen sozialen Ungleichheitslagen (v. a. Geschlecht, Klasse, Ethnizität/Migrationsauswirkungen, Alter), die ich auch auf die inklusive Pädagogik beziehe. An diesem Projekt arbeite ich weiter, unter anderem motiviert durch die jährlich stattfindenden InklusionsforscherInnen-Tagungen (IFO). Es geht mir darum klarzustellen, dass die inklusive Pädagogik unter dem »Umgang mit Heterogenität« nicht nur die Kategorie Behinderung fokussiert, sondern die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Ungleichheitslagen, mit denen Kinder und Jugendliche konfrontiert sind, wobei Behinderung eine, wenn auch wichtige, Ungleichheitslage unter mehreren darstellt.
Welches sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen auf dem Gebiet von integrativer bzw. inklusiver Pädagogik?
Überwindung professioneller Differenzen zwischen RegelschullehrerInnen, SonderpädagogInnen und IntegrationspädagogInnen
Zu den größten Herausforderungen auf diesem Gebiet zählt für mich die Überwindung der professionellen Differenzen zwischen SonderpädagogInnen, RegelpädagogInnen, IntegrationspädagogInnen, die in der Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen, nicht zuletzt natürlich in der universitären Ausbildung, in der ich in den letzten Jahrzehnten tätig war, zu thematisieren sind. Für mich als Sonderpädagogin war zum Beispiel der von Anfang an geführte Streit darüber interessant, ob Integration nur das Ziel der Unterrichtung und Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher sein sollte, der Weg dorthin jedoch im Regelfall durch Sondereinrichtungen führe, wie die Sonderpädagogik dies vertrat, oder ob Integration als Weg und Ziel zugleich aufzufassen sei, wie dies aufseiten der Integrationspädagogik gesehen wurde. Der Streit wurde nicht im engeren Sinne ausgetragen, sondern stellte eher die unversöhnlichen Positionen zweier Gruppen dar. Der Mainstream der Regelpädagogik positionierte sich letztlich so wie die Sonderpädagogik: Behinderte Kinder sollten nur im Ausnahmefall Regelschulen besuchen, nämlich dann, wenn ihre Behinderung dem nicht im Wege stände (körperlich, geistig, mental). Die Integrationspädagogik und auch ihre Wurzeln wurden – nach meiner Auffassung – in den vergangenen Jahrzehnten vom Mainstream der Pädagogik weitgehend missachtet oder im jeweiligen Eigeninteresse – der Regelpädagogik ebenso wie der Sonderpädagogik – missinterpretiert. Das zu verändern und in eine neue Richtung zu bringen, empfinde ich als eine ganz grundlegende Herausforderung; denn Regelpädagogik und Sonderpädagogik haben ihre je eigenen Anteile an der Diskriminierung und institutionellen Besonderung bestimmter Kinder und Jugendlicher.
»Es gibt keinen Rest«
Eine zweite große Herausforderung besteht darin, dass bei der Einführung einer umfassenden inklusiven Pädagogik nicht einzelne Gruppen besonderter Kinder und Jugendlicher für inklusionsgeeigneter gehalten werden als andere, die möglicherweise wieder zu einer REST-Gruppe umdefiniert werden. Die Integrationspädagogik hat doch, wenn auch nur modellhaft, nachgewiesen, dass alle Kinder integrierbar sind. Und sie hat sogar gezeigt, dass die Integration körperlich und geistig behinderter Kinder (oftmals verbunden mit einem hohen Elternengagement) ggf. sogar einfacher gelingen kann als die Integration lernbehinderter, erziehungsschwieriger und sprachbehinderter (LES) Kinder – ein Ergebnis, das von der Bildungspolitik und der Regelpädagogik missachtet und teilweise geradezu umgekehrt angenommen und politisch verwendet wird. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn erst einmal (mit mehr oder weniger klaren Zeitplänen) die Schulen für Lernbehinderte und für Erziehungsschwierige aufgelöst werden sollen, die Existenz der Schulen für geistig Behinderte, Sinnesgeschädigte und Körperbehinderte aber vorläufig gar nicht angetastet wird; das sind für mich jedenfalls Entwicklungen, die dem Gedanken der Inklusion und einer Schule für alle Kinder widersprechen und deshalb falsch sind.
Inklusion ist keine Erfindung der UN-BRK
Was mir aber besonders wichtig erscheint, ist, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die inklusive Pädagogik keine – mit der UN-Behindertenrechtskonvention in Gang gesetzte – neue Erfindung der letzten zehn Jahre ist, sondern in der Integrationspädagogik eine Vorläuferbewegung hat, auf deren Erfahrungen und Ergebnisse sie zurückgreifen kann. Warum das, wie mir scheint, so hartnäckig vermieden wird, kann ich mir kaum erklären.
Reduktion von Inklusion auf die Dimension Behinderung
Hinzu kommt: Der Umgang mit den unterschiedlichen sozialen Ungleichheitslagen muss sich verändern. Wie gesagt, eine Reduktion der Betrachtung auf die Kategorie Behinderung (einschließlich der um diese Kategorie kreisenden Dekategorisierungsdebatte) müsste noch einmal kritisch beleuchtet werden. Wie steht es um den Umgang mit den anderen relevanten Ungleichheitskategorien? Das wäre ein weiterer Bereich, den ich sehr herausfordernd finde.
Welche Erkenntnisse der letzten Jahre sollten nicht in Vergessenheit geraten?
Geschichte der Integrationspädagogik – auch in außerschulischen Feldern
Ich würde zunächst einmal auf jeden Fall die Geschichte der Integrationspädagogik mit ihren institutionell unterschiedlich durchlaufenden Phasen im vorschulischen, schulischen und nachschulischen Feld nennen. Zwischen diesen Feldern sollten wir immer bewusst unterscheiden. Es gibt ja nicht nur die Schule bzw. schulische Integration/Inklusion. Das muss betont werden; denn Integrations- und Inklusionsforschung sind immer noch zu sehr auf Schule konzentriert. Die anderen Felder sind aber genauso relevant und auch die Übergänge zwischen ihnen. Das wäre ein Punkt, der Berücksichtigung verdient.
Vorliegende
Begleitforschungen nicht ignorieren
Der zweite Punkt, auf den ich schon hingewiesen habe, lautet: Die inklusive Pädagogik basiert auf den theoretischen und praktischen Ansätzen der Integrationspädagogik. Demgemäß sollten auch die wissenschaftlichen Begleitforschungen zur Integrationspädagogik, die ja vorliegen und die hoch interessant waren, nicht ignoriert, sondern positiv genutzt werden. Das betrifft die pädagogische Praxis, aber besonders auch die Bildungspolitik.
Rahmenbedingungen der Modellprojekte übernehmen
Wichtig ist schließlich auch die Erkenntnis, dass inklusive Pädagogik nicht zum Nulltarif zu haben ist. Das war in der integrativen Pädagogik schon klar. Eine umfassend inklusive Pädagogik bedarf bestimmter Rahmenbedingungen, die in den Modellprojekten ermittelt und definiert wurden und damit auch nicht mehr als unbekannt angesehen werden dürfen. Mit Sparpolitik im Bildungssektor war und ist integrative bzw. inklusive Pädagogik nicht vereinbar.
Theorieentwicklung in den Modellprojekten
Wenn du fragst, welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen mir besonders wichtig erscheinen, denke ich an erster Stelle daran, dass die meisten wissenschaftlichen Begleitforschungen der Modellprojekte versucht haben, nicht nur die pädagogische Praxis zu reformieren, sondern auch Theorieentwicklung zu betreiben. Das hervorzuheben finde ich besonders wichtig, weil ich den Eindruck gewonnen habe, dass sich – im internationalen Vergleich – die deutsche Integrationsbewegung an dieser Stelle der Verbindung von Praxisbegleitung und Theorieentwicklung positiv von manchen anderen Ländern abhebt. Nach meinem Eindruck haben vor allem die Dänen und Schweden die Integrationspädagogik sehr praxisbezogen und damit pragmatischer eingeführt als die (West-)Deutschen, nämlich auch im Rahmen des Normalisierungsprinzips, das ja keine große Affinität zu Theorieentwicklung gezeigt hat, so jedenfalls mein Eindruck. Unter den deutschen Modellprojekten haben sich dagegen einige durch Theorieentwicklung hervorgetan:
Aneignungstheorie von Georg Feuser
Mir persönlich erschien immer der Theorieansatz der Aneignungstheorie von Georg Feuser im Rahmen der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule besonders wichtig, der einen umfassenden Anspruch zur Verortung jedes Individuums in der Gesamtgesellschaft enthält und der von Feuser im Zusammenhang mit seinen wissenschaftlichen Begleitungen von Kindergärten und Schulen entwickelt wurde.
Theorie integrativer Prozesse
Theorieentwicklung haben aber auch andere wissenschaftliche Begleitprojekte vorzuweisen. Ich erwähne einmal exemplarisch die Gruppe um Helmut Reiser (Gabriele Klein, Gisela Kreie, Maria Kron), die die Interaktionen behinderter und nicht behinderter Kinder in integrativen Kindergärten in Frankfurt untersucht haben und ihre Analyse integrativer Prozesse auf vier analytischen Ebenen (der psychischen, interaktionellen, institutionellen und gesellschaftlichen) ausdifferenziert haben, ein Vorgehen, das mir in meiner Rahmenschrift zur Habilitation über Integrationspädagogik und Geschlecht als Vorbild gedient hat.
Einbeziehung mehrerer Ebenen in empirische Forschung
Daneben ist natürlich zu betonen, dass die wissenschaftlichen Begleitforschungen als empirische Forschungsarbeiten wichtig waren, vor allem auch in ihrer methodischen Bandbreite und auch den analysierten Themenbereichen, die ja nicht alle gleich waren. Steht an einem Pol, wie etwa bei Georg Feuser, die Gesamtgesellschaft als Folie für die Veränderungsmöglichkeiten hin zu integrativen Kindergärten und Schulen zur Diskussion, so bilden am anderen Pol individuelle biografische Erfahrungen mit der Integrationspädagogik die Basis für die Frage nach gelingender Integration.
Dekategorisierung
Natürlich sind in diesem Zusammenhang auch die Streitpunkte innerhalb der Community zu reflektieren. Zwei solcher Streitpunkte sind mir besonders aufgefallen; an den Diskursen war bzw. bin ich jedoch nicht oder nur am Rande selbst beteiligt, weil sie mich nicht so ganz überzeugen. Da ist einmal das Thema der Dekategorisierung von Behinderung. Auf der einen Seite ist es wichtig, die Konstruktionen von Behinderung auf ihre gesellschaftlichen Ursprünge hin zu befragen und Auflösungspotenziale auszutesten. Das funktioniert aber nach meiner Auffassung nur, wenn auch – und besonders – die Funktionen von Normalität reflektiert und dekonstruiert werden, ein Ansatz, der meines Wissens bislang nicht im Zentrum der Debatte steht.
Integration vs. Inklusion
Ein zweiter Streitpunkt ist die Debatte über Integration und Inklusion, also integrative und inklusive Pädagogik, die meines Wissens weitgehend von Andreas Hinz eingebracht und forciert wurde. Ich selbst war und bin nicht begeistert von dieser Debatte, weiß aber, dass auch ich mich daran beteiligen muss, weil die halbe Republik davon ausgeht, Inklusion sei etwas ganz Neues – und da bedarf es der rückblickenden Aufklärung durch entsprechende Hinweise auf das, was die inklusive Pädagogik von der Integrationspädagogik »geerbt« hat; denn ich sehe die inklusive Pädagogik als eine Weiterentwicklung der integrativen Pädagogik an. Der Austausch der Begriffe, der meines Wissens bei Andreas Hinz dadurch motiviert war, dass er auf bestimmte Mängel in der praktischen Umsetzung der Integrationspädagogik hinweisen wollte, hat tendenziell dazu geführt, die Errungenschaften der Integrationspädagogik aus dem Blick zu verlieren. Und im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention mit nachfolgender Forderung nach flächendeckender Einführung inklusiver Pädagogik ist des Weiteren der Eindruck entstanden, als sei etwas ganz Neues gefordert, was es noch nie gegeben habe – und genau das ist falsch, wenn wir die inklusive Pädagogik im Wesentlichen als Weiterentwicklung und inhaltliche Erweiterung der integrativen Pädagogik betrachten.
Dimension Geschlecht
Aus meiner eigenen Forschungsperspektive nenne ich schließlich noch einen Streitpunkt, nämlich die Einbindung der Kategorie Geschlecht in die Integrationspädagogik, die heute – im Rahmen der inklusiven Pädagogik – als eine allgemein wichtige thematische Erweiterung gilt. Es gab einmal einen Koedukationsstreit zwischen Annedore Prengel und Ulf Preuss-Lausitz, den ich interessant fand. Annedore Prengel hatte die Frage in den Raum gestellt: »Sind Mädchen (gemeint waren nicht behinderte Mädchen – U. Sch.) die Integrationshelferinnen par excellence?« Und Ulf Preuss-Lausitz hielt dagegen. Beide Positionen entstammten den Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Begleitforschungen, wobei die eine mit einem feministischen Theorieansatz untermauert wurde, die andere dagegen mit einem Ansatz der Sozialisationstheorie. Auch methodisch wurden unterschiedliche Wege gewählt (systematische Beobachtungen und PädagogInnen-Interviews gegenüber Einstellungsbefragungen von SchülerInnen). Letztlich wurde deutlich, so jedenfalls das Ergebnis meiner Sekundäranalyse, die ich in der Zeitschrift Gemeinsam Leben (2000) ausgeführt habe, dass zwei so unterschiedliche Untersuchungsanlagen nicht unbedingt zu vergleichbaren Ergebnissen kommen können. Für mich als Frauen- und Geschlechterforscherin war das ein interessanter Streit, der allerdings, so mein Eindruck, vom Mainstream der Integrationsbewegung weniger zur Kenntnis genommen worden ist, weil ja auch die Koedukation vom Mainstream nicht infrage gestellt wird und außerdem die formale Gleichstellung von Mädchen und Jungen kaum zu den unterschiedlichen Geschlechterverhältnissen im Alltagsleben (der Bildungseinrichtungen) in Beziehung gesetzt wird.
Wie siehst du die Bezüge der Integrationspädagogik zu anderen Teildisziplinen der Pädagogik? Womit dann auch die anderen Heterogenitätsdimensionen ins Zentrum rücken würden.
Bezüge zur Allgemeinen Pädagogik
Wichtig sind für mich zunächst einmal die Bezüge zur Allgemeinen Pädagogik, also vor allem auch bezogen auf die unterschiedlichen Normalitätskonstruktionen. Ich denke dabei zum Beispiel an die Dissertation von Elisabeth von Stechow, die eine historische Abhandlung über die »Erziehung zur Normalität. Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit« (2004) enthält; ähnlich auch das von Helga Kelle und Anja Tervooren 2008 herausgegebene Buch Ganz normale Kinder mit wichtigen Bezügen zu den anderen Teildisziplinen und zur Allgemeinen Pädagogik. Es wäre sinnvoll, wenn auch diese ihre Verhältnisse zu den gesellschaftlichen Konstruktionen von Normalität stärker reflektieren würden. So käme auch ein neuer Schwung in die Debatte über Regel- und Sonderpädagogik.
Interkulturelle Pädagogik, Geschlechterforschung
Zwischen integrativer und interkultureller Pädagogik sehe ich auf jeden Fall immer Bezüge, ganz ohne Frage, genauso wie zur allgemeinen Frauen- und Geschlechterforschung in der Pädagogik, weil diese Teildisziplinen ja drei wesentliche Reformströmungen der Pädagogik mit bestimmten parallelen historischen Entwicklungen darstellen, wie Annedore Prengel in ihrer Pädagogik der Vielfalt (1993) gezeigt hat.
Disability Studies
Auch die Disability Studies verfolge ich mit Interesse. Sie beschäftigen sich nach meiner Beobachtung allerdings nicht gerade zentral mit Fragen der Pädagogik respektive der integrativen/inklusiven Pädagogik. Ihre weitgehend kritische Haltung zur integrativen/inklusiven Pädagogik sollten wir allerdings mit den entsprechenden VertreterInnen der Disability Studies intensiver diskutieren als dies – aus meiner Sicht – bisher geschieht.
Und bei diesen Bezügen zu den anderen Teildisziplinen hast du da eine Zusammenarbeit wahrgenommen zwischen den Bereichen? Also mein Eindruck ist, dass beispielsweise an Integrations-/InklusionsforscherInnen-Tagungen (IFO) seit Jahrzehnten immer dieselben Leute teilnehmen und dass diese schwerpunktmäßig ursprünglich aus dem Bereich der Sonderpädagogik/Heilpädagogik/Behindertenpädagogik kommen. Alle anderen Bereiche werden, wenn überhaupt, dann durch Einzelpersonen vertreten, wie etwa durch Dich.
Bezüge zur Allgemeinen Pädagogik
Ja, zur Allgemeinen Pädagogik waren die Verbindungen früher vielleicht stärker, weil ja einige der ausgewiesenen IntegrationspädagogInnen aus der Allgemeinen Pädagogik kamen, wie Ulf Preuss-Lausitz und Jutta Schöler. Die Integrationspädagogik resultierte ja nicht nur aus der Kritik an der Sonderpädagogik. Die Initiativen kamen ursprünglich, so mein Eindruck, doch aus beiden oder sogar aus verschiedenen Richtungen.
Für mich stellt sich darüber hinaus die Frage: Wenn inklusive Pädagogik mehr sein soll, das heißt, verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit berücksichtigen soll, wie kommen wir dahin, das tatsächlich leisten zu können? Wie kommen wir mit den Forscherinnen und Forschern zusammen, die sich in ihren eigenen Teildisziplinen über Jahre hinweg mit einzelnen oder mehreren Ungleichheitslagen beschäftigt haben? Wie können wir zu einer gelingenden Kooperation im Sinne der inklusiven Pädagogik kommen?
Vernachlässigung von Ungleichheitslagen durch Individuumsorientierung
Mir scheint, dass sich die Perspektive auf einen wertschätzenden Umgang mit Heterogenität, also auch auf die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Ungleichheitslagen, bisher noch nicht in allen Köpfen festgesetzt hat. Möglicherweise steht dem – auch in der integrativen/inklusiven Pädagogik – noch das sehr individuumsorientierte Bild entgegen, alle Kinder, so, wie sie sind, da abzuholen, wo sie gerade stehen, ohne jedoch die sozialen Ungleichheitslagen, mit denen sie konfrontiert sind, ernsthaft zu berücksichtigen. Eine Perspektiverweiterung würde aber ein soziologisches Sachverständnis voraussetzen, welches in der Ausbildung auch vermittelt werden müsste, damit es allen PädagogInnen gleichermaßen zur Verfügung stehen könnte. Wenn ich daran denke, dass an der TU Dortmund, an der ich von 1996 bis 2014 gelehrt habe, in den letzten Jahren aber nicht nur die Inhalte der Professuren für »Theorie der Rehabilitation« und »Frauenforschung in der Behindertenpädagogik«, sondern auch für »Rehabilitationssoziologie« durch andere Inhalte (im Rahmen neuer Denominationen dieser drei Professuren), ersetzt wurden, dann ist natürlich die Frage, in welchen anderen Fächern das inklusionspädagogisch relevante Fachwissen über soziale Ungleichheitslagen systematisch vermittelt werden soll?
Nun gut, nehmen wir an, die veränderten universitären Strukturen sollen wirklich der flächendeckenden Einführung inklusiver Pädagogik dienen, dann stellt sich als nächstes die Frage nach den zukünftigen Aufgaben in Theorie und Praxis.
Begleitforschung
als Zukunftsaufgabe
Ich denke, für beide Bereiche wird die Schulentwicklungsforschung (für die an der TU Dortmund das Fach »Theorie der Rehabilitation« umgewidmet wurde) eine große Zukunftsaufgabe sein. Die wissenschaftliche Begleitforschung von Integrationsprojekten (nicht nur im Bereich von Schule) hätte meines Erachtens gar nicht unterbrochen werden dürfen, als die Initiativphase und die Modellphase der Integrationspädagogik abgeschlossen waren und Integration qua Schulgesetzgebung zur Regel werden sollte. Jetzt brauchen wir sie wieder ganz dringend und, aus meiner Position gesehen, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen sozialen Ungleichheitslagen, die die Schulentwicklung auf den unterschiedlichen Ebenen beeinflussen können.
Gestaltung von
Übergangsprozessen
Eine andere wichtige Perspektive ist die Aufmerksamkeit für institutionelle Übergänge: vom Elternhaus in die Kita, von der Kita in die Schule, von der Schule in Ausbildung und den Beruf. Denn die einzelnen Bereiche der inklusiven Pädagogik sollten die ihnen je vorgelagerten und nachgelagerten Bereiche mit deren je unterschiedlichen institutionellen Strukturen zur Kenntnis nehmen. Entsprechend sehe ich die zukünftigen Aufgaben auch in der Forschung.
Drei Stichworte halte ich für wesentlich: (Institutionelle) Übergänge, Intersektionalitätsforschung und kritische Normalismus-Analyse (mit Bezügen zu Behinderung, Geschlecht, Fremd- und Eigensein usw.)
Sprechen sollten wir schließlich noch über die Relevanz von internationaler Forschung.
Italien als Inspiration
Die Relevanz der internationalen Forschung ist natürlich nicht zu unterschätzen. Internationale Forschung habe ich selbst weitestgehend durch die auf diesem Gebiet vorliegende Fachliteratur zur Kenntnis genommen. Exemplarisch denke ich hier an die Publikationen von Jutta Schöler zur italienischen Integrationspädagogik, denen – nicht zu vergessen – die wichtigen Arbeiten des bereits in den 80er Jahren verstorbenen Adriano Melani-Comparetti vorausgegangen waren, die sehr beeindruckend waren. Wichtig für die Forschung ist natürlich auch die kritische Analyse der internationalen Dokumente der UNO, OECD usw.
Eigene Erfahrungen aus Island
Selbst forschend engagiert habe ich mich, wie berichtet, auf dem Forschungsfeld der Integrationspädagogik in Island, das damals, in den 80er Jahren, noch eng verwoben war mit dem in Dänemark und Schweden verbreiteten Normalisierungsprinzip. Meinen oben erwähnten kritischen Vergleich zwischen Integrationspädagogik und Normalisierungsprinzip sehe ich in diesem Zusammenhang als einen kleinen eigenen Forschungsbeitrag auf diesem Gebiet an.
Brasilien
Darüber hinaus – unter anderem motiviert durch einen längeren Forschungsaufenthalt in Brasilien in der zweiten Hälfte der 90er Jahre – habe ich mich beschäftigt mit Verhältnissen zwischen Behinderung, Geschlecht und Armut im internationalen Vergleich. Auch in diesem Rahmen spielt die Integrations-/Inklusionsdebatte eine Rolle, die besondere Aufmerksamkeit verdient.