Zusammenfassung: Warum gewinnt eine Orientierung an »Vielfalt« in den verschiedenen Bereichen des Bildungswesens an Bedeutung? Der Beitrag begründet die These, dass die Pädagogik der Vielfalt mit inklusiven Strömungen einhergeht, die Antworten auf ungelöste Probleme in der Sphäre spätmoderner Bildung ermöglichen. Theoretische Grundlagen der Pädagogik der Vielfalt werden im Lichte der Theorie der Menschenrechte vorgestellt und im historischen Kontext vormoderner, moderner und spätmoderner Entwicklungen verortet. Die zentralen Elemente inklusiver Praxis werden dargelegt. Argumente der Kritik an pädagogischen Heterogenitätsdiskursen werden diskutiert.
Summary: Why does an orientation towards »diversity« gain more and more importance in the educational system? The article argues that diversity education goes along with inclusive approaches, which offer answers to unsolved problems of late modern age. Theoretical foundations of diversity education are presented in the light of the philosophy of human rights and located in the historical context of pre-modern, modern, and late modern social development. A summary of key elements of inclusive educational practice is exposed. Critical points are discussed.
(1) In unterschiedlichen Bereichen des Bildungswesens wählen Protagonisten pädagogischer Konzeptionen zu ihrer Selbstbeschreibung eine Orientierung an Vielfalt. Dazu gehören Ansätze im Elementarbereich (vgl. z. B. Wagner, 2008), in der Sozialen Arbeit (vgl. z. B. Leiprecht, 2011; Effinger et al., 2012; Sielert et al., 2009) und in der Schulpädagogik (vgl. z. B. Bräu & Schwerdt, 2005; Boller et al., 2007; Warzecha, 2003; Carle & Metzen, 2014; Boban & Hinz, 2003). Auch in Lehrplänen und Bildungsprogrammen wird Inklusion der vielfältig Lernenden vorgesehen (vgl. z. B. Ministerium für Bildung und Wissenschaft Schleswig-Holstein, 2014). In wissenschaftlichen Institutionen sind international Vorhaben der Diversity-Studies entstanden (vgl. z. B. Hauenschild et al., 2013) und auch bildungstheoretische und interdisziplinäre Abhandlungen würdigen die Relevanz des Vielfältigen (vgl. z. B. Blanck, 2012; Hörster et al., 2013; Waldschmidt & Schneider, 2007; Cloerkes, 2007; Lutz & Wenning, 2001; Walgenbach, 2007; Kampshoff, 2009; Budde, 2013). Die Konjunktur des pädagogischen Konzepts (Koller et al., 2014), das im Zeichen von Vielfalt oder auch Diversity, Heterogenität, Differenz und weiteren verwandten Begriffen verhandelt wird, lässt danach fragen, was die Perspektive der Vielfalt so attraktiv macht, dass Akteure auf den Ebenen von einzelnen Projekten, Schulen, Einrichtungen und Trägern, von Bildungspolitik und von Wissenschaft hierzulande und international davon ausgehen, dass sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben beitragen kann. Der vorliegende theoretisch und empirisch fundierte Essay2 stellt die These zur Diskussion, dass die Pädagogik der Vielfalt mit inklusiven Strömungen einhergeht, die Antworten auf ungelöste Problem in der Sphäre spätmoderner Bildung ermöglichen. Von einer Debatte im Medium der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik erhoffe ich eine Klärung, in der die Stärken und Schwächen der These, die ich hier wage, im Lichte interdisziplinärer Erkenntnisperspektiven erwogen werden.
(2) Der Artikel diskutiert die Frage nach der aktuellen Bedeutung der Pädagogik der Vielfalt im historisch-gesellschaftlichen Kontext, gerahmt von Einleitung und Schluss, in drei Kapiteln: Im ersten und im zweiten Teil werden theoretische Grundlagen der Pädagogik der Vielfalt im Lichte der Theorie der Menschenrechte vorgestellt und im historischen Kontext vormoderner, moderner und spätmoderner Entwicklungen verortet. Im dritten Teil werden Elemente inklusiver Praxis dargelegt. Der vierte Teil setzt sich mit einigen Argumenten der Kritik auseinander.
1 Theoretische Prämissen der Pädagogik der Vielfalt
im Lichte der Philosophie der Menschenrechte
(3) »Pädagogik der Vielfalt« ist eine Bezeichnung unter anderen für facettenreiche Strömungen in der Bildungslandschaft, die heterogene Lebens- und Lernweisen als gleichberechtigt anerkennen und ihre Inklusion anstreben. »Pädagogik der Vielfalt«, »Diversity Education« und »Inklusive Pädagogik« werden als bedeutungsgleich verstanden.
(4) Die im Folgenden knapp umrissenen theoretischen Prämissen der inklusiven Pädagogik der Vielfalt gehen aus einem langjährigen kontinuierlichen Perspektivenwechsel zwischen »Theorie und Praxis« hervor. Sie fußen auf der sozialen Erfindung des Unterrichts mit heterogenen Lerngruppen, die seit Ende der siebziger Jahre, auf reformpädagogischen Errungenschaften wie Freiarbeit und Projektarbeit aufbauend, in den Modellversuchen der integrativen Pädagogik von Lehrkräften entwickelt wurden (Deppe-Wolfinger et al., 1990). Der Gemeinsame Unterricht mit Kindern aller denkbar heterogensten Lernausgangslagen wurde zunächst »integrativ« genannt und wies alle Kennzeichen dessen, was inzwischen mit »inklusiv« bezeichnet wird, auf. Die im Kontext verschiedener pädagogischer Bewegungen – vor allem der Integrativen/Inklusiven, der Feministischen und der Interkulturellen Pädagogik – entstandene Pädagogik der Vielfalt (Preuss-Lausitz, 1993; Hinz, 1993; Prengel 1993, 2006) bezieht beides, sowohl pädagogisch-didaktische Erfahrungen und Studien aus der Praxis mit heterogenen Lerngruppen als auch Heterogenes favorisierende bildungs- und sozialphilosophische Denkfiguren, vor allem aus der Kritischen Theorie und aus postmodernen Theorien, aufeinander – ohne einem von beiden Modi der Erkenntnisgewinnung den Vorzug zu geben. Inzwischen lassen sich theoretische Prämissen der Pädagogik der Vielfalt anhand von im internationalen Kontext entwickelten Denkfiguren der Philosophie der Menschenrechte (Bielefeldt, 1998, 2007, 2010; Menke, 2011; Deutsches Institut für Menschenrechte, 2013) artikulieren.
(5) Damit werden theorie-, empirie- und praxisrelevante Vorhaben im Horizont eines Spannungsfeldes aus Erfahrungen, Analysen, Kritiken und Zukunftsbildern umrissen. Diese Vorhaben enthalten – wie jeder sozial relevante Ansatz (Beer & Bittlingmayer, 2008) – normative Bezüge, die in Begründungen inklusiver Konzeptionen immer wieder explizit zum Ausdruck gebracht werden. Sie verstehen sich als Beiträge zur Demokratisierung des Bildungswesens und korrespondieren mit sozialen Bewegungen, denen es um Demokratisierung in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären geht (Gomolla, 2014). Ihre Hoffnungen auf »erfülltes Leben« (Dewey, 2008; Bohnsack, 2003) und ihre Ziele der Verminderung gleichschaltender, entmündigender, unterdrückender, ausgrenzender, ausbeutender, demütigender Denk- und Handlungsweisen und Strukturen weisen aus Erfahrungen geschöpfte zukunftsweisende Momente auf, deren »normative Potenziale in sozialen Praktiken zu finden sind, die durch wechselseitige Anerkennung konstituiert werden« (Stahl, 2013, S. 15; vgl. auch Wilson & Hansen, 2009, S. 188). Demokratisierung wird als dauerhafte, auch zukünftig unabschließbare Aufgabe (zusammenfassend Heil & Hetzel, 2006; Prengel, 2011a) verstanden, deren Vorläufer historisch weit zurück verfolgt werden können, zum Beispiel bis in mittelalterliche Auseinandersetzungen um Befreiung aus der Leibeigenschaft (Blickle, 2006; vgl. zur »Protomoderne« auch Broch & Rassiller 2008).
((6)) Als vielfaltsbewusste inklusive Ansätze können hier zusammenfassend ungezählte Bestrebungen betrachtet werden, die eine Reihe starker, jeweils sphärenspezifisch konkretisierter Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie beruhen auf grundlegenden Einsichten, die an den Prinzipien der Menschenrechte – Gleichheit, Freiheit, Solidarität – orientiert sind (Bielefeldt, 1998) und sich gegen Ungleichheit, Unfreiheit und Menschenfeindlichkeit wenden. Die solidarisch anzustrebende gleiche Freiheit wird in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert und in gruppenbezogenen Menschenrechtskonventionen auf verschiedene Lebenslagen bezogen (Vereinte Nationen, 1948, 1979, 1989, 2006; UNESCO, 2005). Von Ungleichheit, Unfreiheit und diskriminierender Aversivität betroffene Gruppierungen (Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, 2006) sollen in den Genuss der gleichen Freiheit kommen – Gruppierungen, die aus der Vielfalt der Geschlechter, der Befähigungen (»Abilities«, »Capabilities«), der sexuellen Orientierungen, der Generationen, der Religionen, der sozioökonomischen, sozio-kulturellen Lebenslagen beziehungsweise der Kulturen, Subkulturen und Ethnien sowie aus zukünftig in weiteren unvorhersehbaren Figurationsprozessen (Elias, 1970) sichtbar werdenden Zugehörigkeiten hervorgehen. Anhand der Metapher des Patchworks werden in auf Gruppen und auf Einzelne bezogenen Formulierungen wie »Patchwork der Minderheiten« (Lyotard, 1977) und »Patchwork der Identitäten« (Keupp et al., 1999, 2013) die Heterogenität und Relationalität kollektiver oder individueller Zugehörigkeiten veranschaulicht. Ein Blick in internationale Theoriebildungen lässt erkennen, wie die universell-egalitäre humane Anerkennung auf der Makroebene globaler Auseinandersetzungen, z. B. von dem Politikwissenschaftler Achille Mbembe, entworfen wird: »But postcolonial thought is also a dream: the dream of a new form of humanism […]. It’s the dream of a polis that is universal, because it’s ethnically diverse« (Mbembe, 2008, o. S.). Eine solche Anerkennung kultureller Pluralität ist nicht mit kulturrelativistischer Tolerierung von Unfreiheit zu verwechseln, denn einem menschenrechtlichen Universalismus geht es um die individuelle und gemeinschaftliche Freiheit aller Menschen (Bielefeldt, 2007, S. 196) und um ein in seiner Ausrichtung je situativ zu reflektierendes Engagement gegen Machtverhältnisse in ihren verschiedenen kulturellen Gestalten, zu deren Aufklärung Differenz-, Macht-, Ungleichheits- und Diskriminierungstheorien beitragen (vgl. z. B. Fuchs, 1999; Barlösius, 2004; Hormel & Scherr 2010; Gomolla, 2010; Sonderforschungsbereich Universität Bielefeld, 2011).
(7) Im Folgenden wird danach gefragt, was die menschenrechtlichen Maximen der Gleichheit, Freiheit und Solidarität für vielfaltsbewusste pädagogische Ansätze bedeuten und wie sie sich auf das Generationenverhältnis und die darin begründete Pädagogik beziehen lassen.
(8) Das menschenrechtliche Prinzip der universellen Gleichheit wird für Angehörige aller Gruppierungen in Anspruch genommen. Das Streben nach Anerkennung als gleich, im Sinne von gleichberechtigt, bildet ein unhintergehbares Kennzeichen heterogenitätsbewusster inklusiver Strömungen. Hingegen käme die Verneinung menschenrechtlicher Gleichheit einer Zustimmung zu Unterordnung, zu Diskriminierung, Ausbeutung und Ausgrenzung gleich. Gleichheitstheorien weisen klärend darauf hin, dass Gleichheit nicht als Angleichung, Gleichschaltung oder inhaltliche Identität misszuverstehen ist. Bei Gleichheitsaussagen ist es vielmehr stets notwendig, Hinsichten zu bestimmen, in denen von Gleichheit die Rede ist (Dann, 1975). In neueren Menschenrechtstheorien wird hervorgehoben, dass zu diesen Hinsichten der Gleichheit auch die Unbestimmtheit gehört: »Demokratische Gleichheit heißt Gleichheit als Menschen; Recht auf Teilnahme oder Teilsein des einzelnen nicht als dieser oder jener, in dieser oder jener vorweg begrenzten, sondern in unbestimmter Hinsicht, Identität und Ausdehnung« (Menke, 2011, S. 252; vgl. auch Bielefeldt, 2010). In der Sphäre der Bildung wichtige Hinsichten der Gleichheit sind in universellen – je kulturell und historisch interpretierten – humanen Bedürfnissen unter anderem nach ausreichend Zuwendung, Anerkennung, Nahrung, Kleidung, Schutz, geistiger Anregung und Teilhabe begründet und werden in gleichen Rechten, vor allem im Recht auf Bildung, das die Unbestimmbarkeit der Aufwachsenden einschließt, gefasst. Im Generationenverhältnis wird um die als angemessen geltenden Gleichheits- und Ungleichheitshinsichten gerungen (Heinzel, 2011; Prengel & Winklhofer 2014). So brauchen Kinder von Anfang an und altersangemessen veränderlich beides: Anerkennung als unbestimmbare, ebenbürtige Subjekte aus eigenem Recht und Anerkennung als unmündige, versorgungs- und anleitungsbedürftige Abhängige. Darum haben Angehörige der älteren Generation Verantwortung dafür, wichtige kulturelle Errungenschaften durch Bildung zu vermitteln, sodass Angehörige der jungen Generation befähigt werden, ihr Gleichheitsrecht auf kulturelle und ökonomische Teilhabe und ihre Chancengleichheit wahrnehmen zu können.
(9) Das menschenrechtliche Prinzip der universellen Freiheit kommt jeder und jedem Angehörigen aller Gruppierungen zu und ermöglicht Vielfalt. Indem es den einzelnen zusteht, ihr Freiheitsrecht zu nutzen, steht es ihnen zu, ihre heterogenen Lebens- und Lernweisen zu entfalten und darin anerkannt zu werden (Bielefeldt, 1998, 2007; Pauer-Studer, 2000). Vielfalt entsteht aus in Anspruch genommener Freiheit (vgl. Prengel, 2007, 2014a). In der Sphäre der Bildung können Lebens- und Lernweisen in ihrer Heterogenität sichtbar und anerkennbar werden, in dem Maße, in dem ihnen Freiräume eröffnet werden und in dem sie darin intersubjektive Resonanz durch die Lehrenden und die Peergruppen erfahren. Im Generationenverhältnis haben die Angehörigen der älteren Generation Verantwortung dafür, den Angehörigen der jungen Generation – von Anfang an und altersangemessen – Freiräume zu sichern und Eigenständiges anzuerkennen, sodass sie überkommene kulturelle Errungenschaften nicht nur aneignen, sondern transformieren und zu neuen Entwürfen finden können (Klafki, 1994; Habermas, 2009; Peschel, 2014). Es ist Aufgabe der Älteren, freiheitliche, nicht vorbestimmte Entwicklungen der Kinder zu ermöglichen, um ihre wachsende Mündigkeit zu stützen. Auffällig ist, dass das in Menschenrechtserklärungen, demokratischen Verfassungen und in diese verhandelnden theoretischen Diskursen zentrale Prinzip der Freiheit zwar bildungstheoretisch und bildungsphilosophisch beachtet, aber in Diskursen der Schultheorie und Bildungsforschung wenig thematisiert wird. Pädagogik der Vielfalt ist als ein Beitrag zu einer Pädagogik der gleichen Freiheit zu verstehen. Da sie die hierarchischen Elemente im Generationenverhältnis nicht leugnet, sondern – mit offenem Ausgang – bearbeitet, verfällt sie nicht in antipädagogische Einseitigkeit.
(10) Das menschenrechtliche Prinzip der Solidarität beinhaltet, dass die Menschen wechselseitig für ihre Gleichheit und Freiheit einstehen. Aufgrund der Universalität der Menschenrechte gehört dazu auch die Solidarität mit Fremden (Brunkhorst, 1997). In der Sphäre der Bildung verbindet eine menschenrechtlich orientierte Pädagogik damit für die Lehrenden die Aufgabe, sich solidarisch zu den Lernenden zu verhalten und ihnen die Fähigkeit zur Solidarität mit sich selbst und mit anderen zu vermitteln. Im Generationenverhältnis können die neu auf die Welt Kommenden nur durch die Solidarität – das »caring« (Moser & Pinhard, 2010; Prengel, 2013b) ihrer Mütter, Väter beziehungsweise ihrer anderen nahestehenden Personen – überleben und in den frühen solidarischen Erfahrungen erwerben sie die für alle menschlichen Tätigkeiten notwendige Beziehungs- und Kooperationsfähigkeit (Sennett, 2012). Über die Familie hinaus sind in Kindertageseinrichtungen und Schulen PädagogInnen für das Aufwachsen der jungen Generation von existenzieller Bedeutung, das gilt vor allem für Kinder, deren Eltern sie nicht gut versorgen können.
(11) Die drei grundlegenden menschenrechtlichen Prinzipien hängen aufs engste zusammen, keins von ihnen ist um den Preis der Aufgabe auch der beiden anderen verzichtbar, denn ohne Solidarität fehlt das Einstehen für gleiche und freie Verhältnisse; ohne Gleichheit und Freiheit werden andere untergeordnet und unterdrückt. Der Zusammenhang von Gleichheit und Verschiedenheit klingt schon in der langfristig einflussreichen antiken Bedeutung des Wortes »heterogen« an, denn es wird in der aristotelischen Kategorienlehre als verschiedenes, das einander nicht untergeordnet ist, verstanden3 (Rath, 1998; Horn, 2012). In aktuellen sozialphilosophischen Diskursen, so zum Beispiel bei Herlinde Pauer-Studer (2000, S. 156, 263), wird der Gleichheit die Aufgabe der Freiheitssicherung für ausnahmslos alle Menschen zugesprochen. Für die Philosophie der Menschenrechte ist der Zusammenhang von Gleichheit und Freiheit zentral (Bielefeldt, 1998, 2010), auch bildungsphilosophisch wird er hervorgehoben (Stojanov, 2008).
(12) Die verschiedenen Strömungen vielfaltsbewusster inklusiver Pädagogik und Politik haben gemeinsam, dass sie sich um menschenrechtliche Werte der solidarisch angestrebten gleichen Freiheit bemühen. Sie wenden sich gegen »vertikales« Über- und Untereinander und setzen sich für »horizontales« Neben- und Miteinander ein. Während hinsichtlich der Grundwerte ein umfassender Konsens vorliegt, sind situative und sphärenspezifische Ausrichtungen, wie die jeweilige Betonung von Gleichheits- oder Freiheitshinsichten in Machtkämpfen immer wieder neu zu entscheiden und umstritten (Fuchs, 1999).
(13) Ein in diesem Sinne gehaltvoll konzipiertes pädagogisch relevantes Theorem der Heterogenität ermöglicht vielseitige Blicke auf Heterogenes: auf interpersonelle und interkollektive Verschiedenheiten, auf intrapersonelle und intrakollektive Vielschichtigkeiten, auf unvorhersehbare Veränderlichkeit in der Zeit und auf Unbestimmbarkeit (vgl. Heinzel & Prengel, 2002). Die verschiedenen, vielschichtigen und veränderlichen Personen (Keupp, 2013; Hannover, 1997) und kollektiven sozialen Figurationen (Elias, 1970), seien sie in ihren intersektionalen Interdependenzen (McCall, 2005; Knapp, 2005; Walgenbach et al., 2007) auf der subjektiven und intersubjektiven Mikroebene, auf der gesellschaftlichen Makroebene oder auf den Mesoebenen kollektiver Sphären dazwischen wahrnehmbar, fordern zu einem unabschließbaren perspektivischen Gleiten (Graumann, 1960) und der Einsicht in die Unbestimmbarkeit des Heterogenen heraus. Diese Unbestimmbarkeit beruht also darauf, dass sowohl Erkenntnisperspektiven veränderlich und vorläufig sind, als auch dass die verschiedenen Menschen und die verschiedenen Gruppierungen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Veränderlichkeit unergründlich und niemals begrifflich vollständig oder eindeutig fassbar und identifizierbar sind (vgl. dazu auch Heinzel & Prengel, 2002; Casale, 2001; Rendtorff, 2014; Mecheril, 2014).
(14) Daraus folgt: In der Perspektive des menschenrechtlich fundierten Theorems der Heterogenität werden monistische, reifizierende, essenzialisierende, etikettierende, pauschalisierende, und hierarchisierende Kategorisierungen kritisiert. Zwar sind klassifizierende Unterscheidungen notwendig: »Ohne sie könnte kein Akteur zu einer Ordnung seiner Wahrnehmungen und seiner Handlungsweisen gelangen« (Neckel, 2008, S. 153). Aber wenn in professionellen Kontexten, z. B. in Diagnostik, Methodik oder Sozialstatistik, klassifizierende Aussagen getroffen werden, so können sie nur als unvollständige und vorläufige Annahmen gelten. Darum ist das menschenrechtlich und erkenntnistheoretisch fundierte Theorem der Heterogenität pädagogisch und erziehungswissenschaftlich folgenreich. Vielfaltsbewusste inklusive Pädagogik ist einem komplexen Heterogenitätsverständnis verpflichtet, das – von Denkweisen der kritischen und postmodernen Theorien inspiriert – die Frage nach dem, was anders sei, und was gegen Unterwerfungen zu tun sei immer wieder öffnet.
2 Historisch-zeitdiagnostischer Deutungsversuch
(15) In diesem Abschnitt möchte ich es wagen, die These zur Diskussion zu stellen, dass die Pädagogik der Vielfalt mit inklusiven Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung einhergeht. Die Sphäre der Bildung wird in Anlehnung an Michael Walzer (1992) als »Sphäre der Gerechtigkeit« mit zwar gesellschaftlich verflochtenen, aber zugleich auch spezifischen Funktionen (Fend, 1980) und Lebensformen (Jaeggi, 2013) von anderen gesellschaftlichen Sphären unterschieden (Klafki, 1994, S. 53). Formen der inklusiven Pädagogik der Vielfalt kommen zunehmend variantenreich in der Bildungslandschaft zum Vorschein, weil sie – so die Vermutung – Antworten auf Probleme ermöglicht, die als typisch für die Spätmoderne analysiert werden.
(16) Diese Vermutung möchte ich bildungs- und zeithistorisch mithilfe der Unterscheidung zwischen feudalen, modernen und spätmodernen Gesellschafts- und Bildungsmodellen begründen. Damit werden gesellschaftliche Strukturen und interaktive Praktiken unterschiedlich konzipiert, sodass sie mit je typischen Modellierungen der zwischen Gleichheit und Ungleichheit, Freiheit und Unfreiheit sowie Solidarität und Aversivität changierenden Dimensionen sozialer Verhältnisse einhergehen. Sie werden in umstrittenen historischen Periodisierungen entworfen und in umstrittenen zeitdiagnostischen Analysen in ihrer vielschichtigen Gleichzeitigkeit aufgedeckt. So suchen zum Beispiel Studien zur »Protomoderne« (Broch & Rasiller, 2008) nach Modernem in vormodernen Zeitabschnitten und Studien zur »Refeudalisierung« (Neckel, 2010; Forst, 2005) nach überkommenen oder neu entstehenden ständischen Figurationen in der späten Moderne. Mit dem Begriff der Spätmoderne sollen in diesem Beitrag auch verwandte Wortwahlen, wie »zweite« und »reflexive« Moderne (Beck & Giddens, 1996) sowie »Postmoderne« (Welsch, 1987) einbezogen werden.
(17) In zeitdiagnostischen Analysen wird zunehmend verdeutlicht, dass das jeweils phasenweise dominierende Modell aus Problemen des vorangehenden seine Begründung ableitet und seinerseits Probleme hervorbringt, sodass mithilfe der Kategorie der Paradoxie die Widersprüchlichkeit aktueller aber auch der zu erwartenden zukünftigen Entwicklungen charakterisiert wird (Hartmann & Honneth, 2004; Honneth, 2002). Stark vereinfachend werden im Folgenden einige Kennzeichen der drei Bildungsmodelle kontrastierend hervorgehoben.
(18) Für das feudalistische Modell lässt sich herausstellen, dass geburtsständisch begründete Zugehörigkeiten generationenübergreifend hierarchisch aufeinander aufbauen. Gleichheit dient hier als »gruppeninterner Identifizierungsbegriff« (Dann, 1975) und kommt den Angehörigen des gleichen Standes zu. Erziehung soll im trennenden niederen und höheren Schulwesen, das nach Ständen – und vor allem im höheren Schulwesen auch nach Geschlechtern sowie nach weiteren Gruppierungen – trennt, zum standesgemäßen Leben befähigen.
(19) Die moderne Demokratie und ihre Bildungsentwürfe gehen aus einer langen Vorgeschichte der Auseinandersetzungen mit dem feudalistischen Modell hervor (Blickle, 2006; Sienknecht, 1968). In den bildungshistorischen Kanon sind die frühen religiös begründeten Vorschläge der »Pampaedia«, der Bildung für alle, von Johann Amos Comenius (1592–1670) und die Philanthropine der Aufklärer eingegangen (Schmitt, 1993). Ihr bedeutender Protagonist Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) begründete die Einrichtung seiner philanthropischen Musterschule auf dem Land mit einer Fassung des Gleichheitspostulats, das schon die Anerkennung der Verschiedenen kennt, wie folgt: »Ich denke doch nicht, (…) dass man den Verstand eines Bauernkindes und seine Seele für Dinge einer anderen Gattung hält als den Verstand und die Seelen der Kinder höherer Stände« (Rochow, (1772/1907, S. 4) und an anderer Stelle: »Aber Menschen nicht tolerieren, weil sie verschieden sind an Hautfarbe, Kleidung, Sitten und an Äußerungen über ihre Art, sich das Verhältnis der Menschen mit Gott vorzustellen […], das ist mir ein unbegreifliches Rätsel […]« (Rochow, 1792, S. 211).
(20) Im Übergang von geburtsständischen feudalen Ordnungen zu leistungsbezogenen modernen Ordnungen sollen Gruppenzugehörigkeiten zugunsten von individuellen Bildungswegen an Gewicht verlieren. Im Laufe des umkämpften Modernisierungsprozesses breiten sich international einheitliche integrative Schulsysteme aus, die eine möglichst herkunftsunabhängige Grundbildung anstreben. Das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland bildet mit seiner ausgeprägten und frühen Segregation, trotz einiger aktueller integrierender Maßnahmen, vergleichbaren Gesellschaften gegenüber nach wie vor eine Ausnahme (Klafki, 1971; Wiborg, 2010; Blanck et al., 2013; Prengel, 2011b). Obwohl auch international quasi-ständische Hierarchien in Bildungssystemen einflussreich sind (Bourdieu & Passeron, 1971), gilt das für die Bundesrepublik Deutschland in höchstem Maße (vgl. z. B. Baumert et al., 2006; Becker & Lauterbach, 2006; Krüger et al., 2010; Berger & Kahlert 2008).
(21) Ein zentrales legitimierendes Argument moderner Bildung in demokratischen Gesellschaften lässt sich auf dem Hintergrund der Kritik geburtsständischer Statuszuweisung pointiert herausstellen: Erziehung soll ermöglichen, dass die Angehörigen der jungen Generation aufgrund von individueller Leistung angemessene Positionen und Privilegien im hierarchischen Schichtengefüge im Sinne von Chancengleichheit und sozialer Mobilität erreichen. So wird plausibel, dass die individualisierend-meritokratische Ungleichheit, die durch Chancengleichheit ermöglicht wird, als gerechter gilt, als geburtsständische Hierarchien. Auch erscheint eine meritokratisch-leistungsbegründete Ausrichtung der Berufseinmündung unverzichtbar, da Gesellschaften angesichts der Bedeutung der Ressource Wissen auf umfassend ausgebildete Experten angewiesen sind. Von der Einrichtung der Grundschule zu Beginn der Weimarer Republik über die Bildungsreform der sechziger Jahre bis zu aktuellen Reformansätzen reichen Bestrebungen, die ihre Begründung aus der Kritik ständischer Ungerechtigkeit schöpfen und der Logik der Stärkung meritokratischer und der Schwächung ständischer Elemente folgen. Der Erfolg der Reformen wird an der Steigerung von Leistungen möglichst aller Heranwachsender und an einer sozialen Durchlässigkeit, die leistungsbegründeten Aufstieg Einzelner in einem fairen Wettbewerb ermöglicht, gemessen. Sighard Neckel stellt die Bedeutung des meritokratischen Prinzips heraus:
»Tatsächlich begründet das Leistungsprinzip ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Anstrengungen sollen belohnt werden und die Belohnungen untereinander das Maß der jeweiligen Verdienste repräsentieren. Ob dies jemals Realität gewesen ist, ist gesellschaftlich letztlich nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr, dass das Leistungsprinzip eine normative Richtschnur für die Verteilung von Einkommen zieht und somit die Staffelung von materiellen Lebenslagen nicht einfach dem Resultat ökonomischer Ausscheidungskämpfe überlässt. […] Das Leistungsprinzip bedarf der gesellschaftlichen Aushandlung und des Konflikts um Verteilungsgerechtigkeit. Genau darin liegt sein Wert für die soziale Ordnung im Ganzen. Im allein meritokratischen Prinzip der sozialen Schichtung hat das Bürgertum einst sein Arbeitsethos gegen die aristokratische Maßlosigkeit des Genusses behauptet« (Neckel, 2008, S. 12).
(22) In der aktuellen, spätmodernen Phase moderner Demokratien, werden inzwischen unbeabsichtigte Wirkungen, Paradoxien, des modernen demokratischen Bildungsmodells immer sichtbarer: Das System produziert Gewinner und Verlierer. Die einzelne Person trägt die Verantwortung für ihre gesellschaftliche Positionierung, sie muss sich angestrengt in der Konkurrenz behaupten und autonom ihren Weg finden. Denjenigen, die dabei nicht erfolgreich sind, wird Respekt vorenthalten, sodass sie auch Selbstrespekt schwer entwickeln können. Die Erfolgreichen müssen um den Verlust ihres Status fürchten, sodass sie sich umso stärker nach unten abgrenzen und der Solidarität mit den Verlierern entbehren (Tonkens & Swierstra, 2011). Die Schattenseiten der meritokratischen Legitimation sozialer Ungleichheit setzen sich durch (Solga, 2005). In dieser Situation nimmt unter der Oberfläche postulierter Autonomie psychisch belastende Einsamkeit überhand (Ehrenberg, 2008, 2011; Neckel, 2008, S. 192). Isolierende Konkurrenzkämpfe betreffen potenziell alle, sie wirken sich besonders destruktiv auf von soziokultureller Benachteiligung betroffene Gruppierungen (Begemann, 1970) aus und exkludieren Menschen mit Behinderung von vornherein. Bildungsreformen, u. a. Einsetzung von Mindeststandards oder Förderung nach der Denkfigur (nicht nach problematischen Formen ihrer Anwendung) »No child left behind« können die Erfolgschancen eines Teils der Kinder, vor allem solcher aus unterprivilegierten sozialen Lagen, steigern und sind unerlässlich. Aber für Kinder, die sich nicht in erreichbarer Nähe unterhalb von Minimal- oder Regelstandards befinden oder schon darüber hinaus sind, sind eindimensionale Standardmodelle irrelevant. Denn dabei geht es um Förderung, die der Logik des an Chancengleichheit und Wettbewerb orientierten Bildungsmodells verhaftet bleibt – das sie allerdings für einige fairer machen kann. Ansätze der Schulkritik betonen, dass der gleichschrittige Unterricht systematisch einen Teil der Schüler verfehlen muss und dass Bewertungsmaßnahmen wie Benotungen, Sitzenbleiben, Abschulungen und Zuordnungen zu entwerteten Schulformen wie Haupt- und Sonderschulen systematisch Kränkungen eines erheblichen Teils der Schüler in Kauf nehmen (Tillmann, 2006) und damit leistungsmindernd wirken und systematisch die Qualifikations- und Sozialisationsfunktionen der Schule in demokratischen Gesellschaften verfehlen.
(23) Angesichts der Dilemmata von Bildung in der Moderne lässt sich die Bedeutung von Inklusion herausarbeiten. Zunächst ist zu konstatieren, dass Inklusion sich nicht etwa von den demokratischen Errungenschaften der Moderne distanziert, sie baut vielmehr auf ihnen auf und strebt an, zur Verwirklichung von mehr Chancengleichheit beizutragen, und: sie weist darüber hinaus. Im Modell heterogenitätsbewusster inklusiver Pädagogik ist die Anerkennung und Entwicklungs- und Leistungsförderung ausnahmslos aller Heranwachsender in einer gemeinsamen Institution grundlegender Bildung vorgesehen, in der weitgehend auf die Dramatisierung hierarchisierender Zuschreibungen verzichtet wird. Gesucht wird vielmehr nach Formen und Ordnungen der Inszenierung und Ritualisierung gleicher Freiheit (Prengel, 1999), im Wissen darum, dass sie nur unvollständig erreicht werden kann. Innerhalb der Sphäre der Bildung wird der Sozialisations- und der Qualifikationsfunktion Priorität eingeräumt. Die Vorherrschaft einer überbetonten Selektionsfunktion wird kritisiert und reduziert, vor allem wegen ihrer motivations- und leistungsmindernden Wirkungen für die als »schlechte Schüler« Eingestuften.
(24) Inklusion anerkennt die gesellschaftliche Relevanz gemäßigter, möglichst fairer, meritokratischer Strukturen, geht aber über sie hinaus und durchkreuzt ihre Dominanz, indem sie ihnen eine zweite Perspektive hinzugesellt, die die Pluralität der Lebenslagen, Lebensformen und Lernweisen berücksichtigt. In inklusiven heterogenen Lerngruppen werden pädagogische Beziehungen angestrebt, die lernförderliche motivierende Anerkennung für SchülerInnen aller Leistungsniveaus ermöglichen. Die Kultivierung wechselseitiger Anerkennung in heterogenen Peergruppen ist – angesichts hierarchischer Adressierungen unter Kindern (Eckermann & Heinzel, 2013) – ohnehin eine dauerhafte Aufgabe demokratischer Erziehung. Kinder mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung werden oft als besonders schwer integrierbar empfunden, erfolgreiche Ansätze ihrer Inklusion wurden entwickelt (Becker, 2008). Inklusive Pädagogik ermöglicht schnell Lernenden die Freiheit, so rasch voranzukommen, wie sie können, stützt ihre demokratische Sozialisation in ihrer Peergruppe und hat so das Potenzial, zu einer demokratieförderlichen Konzeption von Elitebildung beizutragen. Inklusive Pädagogik bezieht an der wohnortnahen gemeinsamen Schule für ausnahmslos alle, auch Kinder mit schweren Behinderungen und progredienten Krankheiten, ins alltägliche Leben ein. Existenzielle Abhängigkeitssituationen, die in einem auf Chancengleichheit reduzierten Denkmodell demokratischer Bildung unbeachtet bleiben, schließt Inklusion als stets zum menschlichen Leben gehörend mit ein. Damit ist inklusive Pädagogik Teil einer umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklungsperspektive, denn an vielen Orten kommt eine ähnliche Aufmerksamkeit zum Vorschein, so zum Beispiel in der Hospiz- und Palliativbewegung, die bewusst macht, dass alle Lebensweisen und -phasen wertvoll sind – auch die von Angewiesenheit auf andere geprägten, einschließlich der allerersten und der allerletzten (Müntefering, 2014; Jennessen, 2008). In der Verminderung meritokratischer Entwertung und in der Einbeziehung und Anerkennung pluraler Lebenssituationen, seien sie von Kreativität und Entgrenzung oder von Abhängigkeit und Verletzbarkeit beeinflusst, besteht der Beitrag der Pädagogik der Vielfalt zur Arbeit an spätmodernen Herausforderungen in der Sphäre der Bildung.
(25) Durch die Konkretisierung der Allgemeinen Menschenrechte hinsichtlich der Lebensformen von Menschen mit Behinderungen in der Behindertenrechtskonvention wird bewusst gemacht, wie eine solche Anerkennung ihrerseits auch für alle gesellschaftlichen Gruppen folgenreich ist:
»Gegen die Vision einer künftigen Gesellschaft ohne Behinderung stellt die Konvention das Bild einer Menschenwelt, in der Behinderte selbstverständlich leben und sich zugehörig fühlen können. (…) Die geforderte Anerkennung gilt demnach nicht nur den behinderten Menschen und ihrer Würde, sondern erstreckt sich auch – und dies ist bemerkenswert – auf ihre durch die Behinderung bedingten besonderen Lebensformen. Der diversity-Ansatz führt konsequent dazu, dass manche Formulierungen der Konvention eine Nähe zu den Dokumenten des kulturellen Minderheitenschutzes aufweisen. (…) Eine Gesellschaft, die den Beiträgen behinderter Menschen Raum gibt und Aufmerksamkeit widmet, erfährt somit einen Zugewinn« (Bielefeldt, 2009, S. 7).
Diese Sichtweise steht im Einklang mit der Anerkennung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (UNESCO, 2005), sexueller Orientierungen (Offen, 2013; Tuider, 2012) sowie vielfältiger Lebensformen der Geschlechter (Hartmann, 2002; Pech, 2009) und mit der Arbeit an der Verminderung der arroganten Entwertung sogenannter »schlechter Schüler« in alltäglichen Praktiken, dominierenden Diskursen und schulischen Strukturen (Prengel, 2013b).
3 Eckpunkte inklusiver pädagogischer Praxis4
und ihre menschenrechtliche Relevanz
(26) Der Versuch im Rahmen dieses Textes Eckpunkte inklusiver Praxis zu bündeln, bezieht sich explizit vor allem auf die Heterogenitätsdimension »Ability« und widerspricht nicht den im gleichen Zeitraum entwickelten Ansätzen zu anderen Heterogenitätsdimensionen, auch wenn deren Facetten hier nicht ausgeführt werden. Im Rückblick auf die inzwischen vierzigjährige inklusive pädagogische Praxis des gemeinsamen Unterrichts mit Kindern mit und ohne Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland wird ihre allmähliche Verbreitung in allen Schulstufen und Schulformen, vereinzelt auch in Gymnasien, erkennbar: Vom Beginn seit Mitte der siebziger Jahre mit sieben Modellversuchen in Westdeutschland über eine langsame partielle und im föderalen System unregelmäßige Ausbreitung nach der Wende, bis zur Expansion im Zeichen des Inklusionsbegriffs nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention 2009 (vgl. zusammenfassend Müller & Prengel, 2013). Inklusion spielt heute, zwar unterschiedlich ausgeprägt aber dennoch unübersehbar, in allen Bundesländern eine Rolle, was dazu geführt hat, dass die Inklusionsquote (der Anteil der Kinder mit einer Behinderung, die eine Regelschule besuchen) gegenwärtig auf ca. 25% geschätzt wird (Klemm, 2012). Das ist im internationalen Vergleich gering (Preuß-Lausitz, 2013).
(27) Die Praxis inklusiver Pädagogik seit Mitte der siebziger Jahre lässt sich auf fünf Ebenen des Bildungssystems, der institutionellen, der professionellen, der didaktischen, der intersubjektiven und der bildungspolitisch-finanziellen Ebene, analysieren. Auch wenn sich unvermeidlich stets widersprüchliche und unvollkommene Entwicklungen ereigneten und ereignen, können Eckpunkte herauskristallisiert werden, die, akkumuliert über den langen Zeitraum von 40 Jahren, bezeichnend dafür sind, was die Praxis Inklusiver Pädagogik ausmacht. Darin sind zentrale Aspekte dessen, was aufgrund professioneller Erfahrungen und internationaler Forschungsergebnisse für »gute« Pädagogik insgesamt als konsensuell gelten kann, enthalten. In einzelnen Einrichtungen und Schulen werden Annäherungen an diese Eckpunkte in sehr unterschiedlichem Maße erreicht, teils unzureichend, teils annähernd, teils exzellent, teils aber auch darüber hinausweisend und schon weiteres Neues erprobend. Darum kommt der folgende Versuch nach so vielen Jahren in denkbarer Kürze zusammenzufassen, was die Eckpunkte praktizierter Pädagogik der Vielfalt sind, einer vorläufigen, unvollständigen und sicher auch revisonsbedürftigen Zwischenbilanz gleich, die gleichwohl auf umfassenden und langfristigen Studien und Erfahrungen basiert.5
(28) Institutionelle Ebene: Alle Kinder und Jugendlichen werden wohnortnah in ihre Kita und Schule mit Primar- und Sekundarstufen aufgenommen. Verschiedene Institutionen – u. a. Frühförderung, Jugendhilfe, Kitas, Schulen, Eltern und weitere Stellen im Sozialraum arbeiten zusammen. In der ganzen Institution (Einrichtung bzw. Schule) werden gemeinsame Regeln und Partizipationsstrukturen im Interesse des Wohlbefindens von Kindern und Erwachsenen (im Sinne einer »Caring Community«) vereinbart. Unterricht erfolgt binnendifferenziert gemeinsam und teilweise in räumlicher Öffnung, in Ausnahmefällen werden temporäre Lerngruppen und Eins-zu-eins-Betreuung innerhalb der Inklusiven Schule angeboten. Wenn Jugendliche mit seltenen Lebenserfahrungen, z. B. mit einer seltenen Behinderung, über den Kreis der eigenen Schule hinaus Kontakt zu Peers mit ähnlichen Erfahrungen suchen, werden sie dabei unterstützt. Lernsituationen und Leistungsbewertungssituationen werden getrennt. Im Sekundarbereich können alle Schulabschlüsse zeitlich flexibel, sobald individuell der entsprechende Leistungsstand erreicht wurde, zertifiziert werden. Jede/r SchülerIn erhält ein seinen Fähigkeiten entsprechendes Abschlusszeugnis.
(29) Professionelle Ebene: Zu den Schulen gehört eine personelle Grundausstattung multiprofessioneller Teams, in denen neben Lehrerinnen und Lehrern sonderpädagogische und sozialpädagogische Fachkräfte arbeiten. Sie wird ergänzt anhand fallbezogener Unterstützung durch externe Experten u. a. aus Sonderpädagogik und Schulpsychologie. Die Teams kooperieren verbindlich und kontinuierlich in regelmäßigen Teamsitzungen mit Intervision bzw. Supervision, sodass Aufgaben und Probleme gemeinsam bewältigt werden.
(30) Intersubjektive Ebene: Pädagogische Beziehungen werden so gestaltet, dass die Heranwachsenden Halt und Anerkennung erfahren und dass vor allem zu traumatisierten Kindern nach dem Motto jede kindliche Handlungsweise ist subjektiv sinnvoll feinfühlige und verlässliche Beziehungen gepflegt werden. Peer-Beziehungen in heterogenen Gruppen sind eine zentrale Ressource für kindliche Entwicklung. Die Erwachsenen beachten auch die Peer-Beziehungen und tragen dazu bei, Selbstachtung und Anerkennung der anderen zu vermitteln.
(31) Didaktische Ebene: Inklusive Didaktik beruht auf zwei Säulen: sie kombiniert obligatorische und fakultative Anteile. Chancengleichheit wird angestrebt anhand eines individualisierungsfähigen Kerncurriculums, das anhand umfassend gestufter Standardmodelle die Schwächen eindimensionaler Minimal- oder Regelstandards überwindet, ohne ihre Vorteile aufzugeben. Lernende auf allen Kompetenzstufen – einschließlich schwerbehinderter und hochbegabter Kinder – lernen unterstützt von Kompetenzrastern und Lernmaterialen in einem adaptiven differenzierenden Unterricht. Der Ansatz des »formativen Assessment« ermöglicht es den Lernenden und Lehrenden nach dem inklusionspädagogischen Motto jedes Kind ist auf seiner Stufe kompetent, die jeweiligen Ausgangslagen zu beachten und passgenau zielgerichtet am Erreichen der Zone der nächsten Entwicklung zu arbeiten (Prengel, 2014b; Böttcher, 2005). Als zweite Säule kommen Freiräume für Themen und Interessen der Kinder und Jugendlichen hinzu (Peschel, 2014; Hartinger & Lohrmann, 2011).
(32) Bildungspolitisch-finanzielle Ebene: Da Inklusion bisher nur partiell realisiert wird, geht es gegenwärtig darum, das inklusive Bildungsmodell planvoll in der Fläche des Bildungswesens zu implementieren, Regel- und Sondersysteme zusammenwachsen zu lassen, Personal zu qualifizieren und Qualität zu sichern (Deutsche UNESCO-Kommission, 2014). Die in getrennten Bildungsinstitutionen vorhandenen Ressourcen werden in inklusiven Schulen und Einrichtungen zusammengeführt. Inklusion wird nicht benutzt, um die Ressourcen sonderpädagogischer Institutionen einzusparen.
(33) Die hier in den Perspektiven fünf verschiedener Ebenen der Bildungssphäre vorgestellten Eckpunkte Inklusiver Pädagogik beziehen sich aufeinander und hängen voneinander ab. Zugleich bieten die einzelnen Punkte aus diesem Spektrum den verschiedenen Akteuren Handlungsmöglichkeiten für einen sukzessiven Prozess des Ausstiegs aus segregierenden und Annäherung an inklusivere Bildung. Die Eckpunkte sind an den menschenrechtlichen Maximen orientiert: Am menschenrechtlichen Gleichheitsprinzip knüpfen die gemeinsame wohnortnahe Bildungsinstitution, das didaktisch adaptiv vermittelte individualisierte Kerncurriculum und die Anleitung der Peers zur wechselseitigen Anerkennung als gleichberechtigt an. Am menschenrechtlichen Freiheitsprinzip knüpfen pädagogische Freiräume für Themen und Interessen der Heranwachsenden und die Erziehung der Peers zur Anerkennung der Freiheit der anderen an. An menschenrechtlicher Solidarität knüpft »Caring« als wegweisendes Prinzip auf allen Ebenen einschließlich der professionellen Qualifikation und Kooperation an.
4 Kritikpunkte
(34) Im Folgenden sollen kritische Argumente zur Pädagogik der Vielfalt diskutiert werden. Auf zwei Argumentationslinien lassen sich wichtige Kritiken zuspitzen: einerseits wird ein Zuwenig und andererseits Zuviel an Heterogenität moniert.
(35) Aus alteritätstheoretischer Sicht plädiert Michael Wimmer leidenschaftlich für radikale Heterogenität, dafür, den Anderen in seiner irreduziblen Andersheit, Fremdartigkeit, Unzugänglichkeit, Unbestimmbarkeit und Nicht-Gegenwärtigkeit nicht zu vergessen (Wimmer, 2014, S. 232). Vermutet wird, die Denkfigur der egalitären Differenz komme einem »Phantasma« gleich, weil sie »konflikthafte Alterität, Negativität und Abstoßung« ausschließe (S. 228). Barbara Rendtorff (2014) kritisiert eine Banalisierung des Begriffs der Heterogenität, mit der die Einsicht in die Unbestimmbarkeit des Subjekts zum Verschwinden gebracht wird. Auch wird die Gefahr hervorgehoben, dass differenzierende Zuordnungen Gefahr laufen, die interaktive Konstruiertheit, strukturelle Machtverflochtenheit, Veränderlichkeit und transkulturelle Bedingtheit von Differenzen auszublenden (vgl. z. B. Mecheril & Vorrink, 2014; Messerschmidt, 2012; Lütje-Klose & Löser, 2013). Den Forderungen nach einem Heterogenitätsverständnis, das der Unbestimmbarkeit und Konstruiertheit, der Machtverflochtenheit und Ungleichheitsaffinität, der Veränderlichkeit und Transgressivität von Differenzen Aufmerksamkeit verleiht, kann aus meiner Sicht nur zugestimmt werden und eine Emphase für Nichtidentisches und für Hierarchiekritik war von Anfang an für die Pädagogik der Vielfalt maßgeblich. Einer der genannten Kritikpunkte wirft jedoch wiederum kritische Rückfragen auf: An den Teil der Argumentation von Michael Wimmer, der das egalitäre Moment im Heterogenitätsverständnis der Pädagogik der Vielfalt anprangert, ist die Frage zu richten, ob eine Alteritätstheorie auf das Postulat der universellen Gleichheit im Sinne gleicher Freiheit verzichten kann, denn damit würde ein zentraler Gehalt der Menschenwürde (Habermas, 2010) aufgegeben und die Akzeptanz von Menschenfeindlichkeit in ihren ungezählten Spielarten in Kauf genommen.
(36) Eine kritische Perspektive, in der es notwendig erscheint, Heterogenität zu reduzieren, nimmt Beate Wischer (2008) ein. Sie findet zwar den schulpädagogischen Heterogenitätsdiskurs plausibel und keineswegs unwichtig, zugleich bündelt sie zustimmend ausgewählte Studien und Argumentationsweisen, für die die Forderung nach innerer Differenzierung idealisierend und unrealistisch ist. Der Unterricht mit heterogenen Lerngruppen stelle unerfüllbare und mit der Selektionsfunktion der Schule unvereinbare Anforderungen an die Lehrkräfte. In dieser Kritik scheint eine mit dem »Selektionsgedanken zwangsläufig verbundene Feststellung von Ungleichwertigkeit« (Wischer, 2008, S.15) zur festen Vorstellung von schulischem Lernen zu gehören. Die Tatsache, dass zahlreiche Akteure auf allen Ebenen des Bildungswesens selbst eine Vielfaltsorientierung wählen, ihre Praxis daran ausrichten und ausdifferenzierte Lösungen für neu entstehende Probleme entwickelt haben, wird von den Protagonisten dieser Argumentationslinie nicht zur Kenntnis genommen. Dass die differenzierende Didaktik der heterogenen Lerngruppe in zahlreichen Schulen der Primarstufe, aber auch in Schulen beider Sekundarstufen voll entwickelt ist und – zwar nicht widerspruchs- oder fehlerfrei, aber freiwillig und sehr erfolgreich – praktiziert wird, und dass sie mit Preisen ausgezeichnet und umfassend empirisch untersucht wurde (siehe Anmerkung 3), wird ausgeblendet. Darum trifft die Beobachtung, dass Akteure im Bildungswesen es ablehnen, kooperativ auf die Heterogenität der Lernenden zu reagieren, in Teilen zu (Oelkers, 2009; Widmer-Wolf, 2014), erklärungsbedürftig ist aber, warum für andere seit Jahrzehnten Individualisierung und Zusammenarbeit alltäglich sind und einen Anreiz für weitere kreative Unterrichtsentwicklung bilden.
(37) In erkenntnistheoretischer Perspektive findet sich aber auch ein Berührungspunkt mit der Kritik an einem möglicherweise falsch verstandenen Heterogenitätspostulat: Man verfiele in »Illusionen der Vielfalt« (Prengel, 1999, S. 44–47; 2007, S. 57–63), wenn man behaupten wolle, im Besitz der Vielfalt zu sein, denn menschliches und mediales Fassungsvermögen ist stets situativ-perspektivisch begrenzt (Graumann, 1960), so konnte ich hier im Medium eines Aufsatzes die Gender-, Kulturen- und Lebensformenvielfalt – um nur einige Beispiele zu nennen – nur andeuten. Auch gehen pädagogische Ideen, Praktiken und Strukturen welcher Art auch immer grundsätzlich aus historisch und kulturell bedingten Figurationen hervor. Darum muss eine Forderung an heterogenitätsbewusste inklusive Ansätze sein, nicht so etwas, wie die Vielfalt zu versprechen, sondern die gewählten notwendig begrenzten Perspektiven und Arbeitsformen transparent zu machen.
(38) Für die Auseinandersetzungen dieses Beitrags wurde ein Zusammenhang zwischen den für die Pädagogik der Vielfalt maßgeblichen Überlegungen der Philosophie der Menschenrechte, den historischen und zeitdiagnostischen Kontexten, den Eckpunkten inklusiver Praxis und der Kritik hergestellt. Gezeigt wurde, dass heterogenitätsbewusste inklusive Strömungen auf Anforderungen der Spätmoderne in der Sphäre der Bildung, u. a. auf Probleme der ständischen Relikte, der Refeudalisierung, des Auschlusses von abhängigen Lebenslagen und auf Paradoxien der meritokratischen Moderne den Versuch einer Antwort darstellen, die sich vielerorts schon längst ereignet. Es zeichnet sich ab, dass eine an der gleichen Freiheit orientierte Pädagogik Probleme der Spätmoderne in der Sphäre der Bildung lösen helfen kann, dass sie teilweise gelingen und teilweise scheitern kann, dass eine Ausbreitung im ganzen Bildungswesen wegen der erheblichen Widerstände, die aus alten hierarchischen Traditionen und aus neuen gesellschaftlichen Spaltungen hervorgehen, langwierig sein wird und dass sie neue Widersprüche hervorbringen wird.
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