Interview mit Annedore Prengel

Wie bist du zur integrativen Pädagogik gekommen?



Ich unterrichtete vom Jahr 1967 an, also mit 22 Jahren, im Hessischen Schuldienst, in Grund- und Sonderschulen, in Primar- und Sekundarstufen. Während der Zeit als Lehrerin in Südhessen hatte ich die Möglichkeit zwei Jahre lang beurlaubt zu werden und Sonderpädagogik in Mainz zu studieren. Beeindruckt hat mich vor allem Ernst Begemann, der dort lehrte. Nach etwa zehn Jahren im Hessischen Schuldienst wechselte ich an das Institut für Sonderpädagogik der Universität Frankfurt am Main, zunächst als abgeordnete Lehrerin, dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Dort erfuhr ich, dass seit Ende der 1970er Jahre integrative Schulen mit gemeinsamem Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung entstanden waren.


Zuvor ist mein Leben so verlaufen, dass ich in Beelitz gegen Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde und noch während meines ersten Lebensjahres waren meine Eltern mit der ganzen Familie nach Nordhessen geflohen, nach Willersdorf, aus dem meine Großmutter Katharina Plett stammte. Ich bin in der nordhessischen Kleinstadt Frankenberg an der Eder aufgewachsen. Vermutlich hat eine Reihe ganz verschiedener schmerzlicher Ausgrenzungserfahrungen und -beobachtungen mein lebenlanges Interesse an der Kritik von Ausgrenzungen mitbegründet.

Unterstützende Beziehungen

Ich erfuhr aber auch sehr intensiv, dass unterstützende Beziehungen möglich sind, so in der Grundschule durch die Lehrerin Erika Loderhose, geborene Sandrock und am Gymnasium Edertalschule durch den Lehrer Albert Ducheyne.

Wichtige DozentInnen

Als ich mit der Arbeit im Schuldienst begann, hatte ich drei Jahre in Gießen studiert, mit den Schwerpunkten Politische Bildung, Kunst und Deutsch. Meine wichtigsten LehrerInnen aus diesem Lehramtsstudium waren die Soziologin Helge Pross und der Politik-Didaktiker Kurt Gerhard Fischer sowie Vera Rüdiger. Ich besuchte einflussreiche Vorlesungen von Otto Antrik, Alois Andiel, Heinz Maus, Karl Hermann Tjaden, Hildegard Hetzer und erlebte Theodor W. Adorno in einer Gastvorlesung, zu der er nach Gießen kam. Ich gehöre zu einer Generation, deren politische Sozialisation sich intensiv im unmittelbaren Vorfeld der Studentenbewegung ereignete.

Wie begann die Auseinandersetzung mit integrativer Pädagogik?

An der Universität Frankfurt, Ende der 70er Jahre muss das gewesen sein, als ich die Idee der integrativen Pädagogik kennenlernte und von den ersten integrativen Kindergärten und Modellversuchen in Schulen hörte. Zuvor, noch als Lehrerin, war ich in Wiesbadener Stadtteilgruppen (Mühltal) sowie in der neuen Frauenbewegung als Mitbegründerin des Frauenzentrums Wiesbaden in der Adlerstraße aktiv gewesen.

Differenztheorien

An der Universität Frankfurt wurden damals in einigen Zirkeln postmoderne französische Theorien einflussreich und kamen zu den in Frankfurt wichtigen Einsichten der kritischen Theorie hinzu. Es entstand eine Aufbruchsstimmung, als wir begannen, Differenztheorien zu rezipieren, zu diskutieren und in Differenzen zu denken ohne zu hierarchisieren. Und irgendwann drängte sich die Einsicht auf, dass das, was alltäglich in Schulen in der neuen integrativen Pädagogik mit heterogenen Lerngruppen entwickelt wurde, und das, was differenztheoretisch formuliert wurde, etwas miteinander zu tun hat: Das Favorisieren von heterogenen Lerngruppen auf der einen und das Favorisieren von Differenz in postmodernen Theorien und das Favorisieren des Nichtidentischen in der Kritischen Theorie bei Adorno auf der anderen Seite.

Integrationsmodellversuche

Im Rahmen des DFG-Projekts unter der Leitung von Helmut Reiser und Helga Deppe »Integration an Grundschulen« besuchte ich dann Mitte der 1980er Jahre die ersten sieben Integrationsmodellversuche und führte in jedem dieser Projekte Interviews mit LehrerInnen, mit WissenschaftlerInnen und mit Personen aus der Schulverwaltung. Das fand damals noch in Westdeutschland und Westberlin statt. Sehr bekannt waren zum Beispiel die Uckermark-Schule und die Fläming-Schule, sie repräsentierten zwei Modelle der Integration, das wohnortnahe und das überregionale Modell. In diesem Forschungsprojekt habe ich einen intensiven Einblick in die Erfahrungen der Personen, die beteiligt waren, bekommen.

Freiwilligkeit

Das war sehr überzeugend, weil diese Schulkollegien, diese einzelnen Lehrkräfte, Methoden des Unterrichts mit heterogenen Lerngruppen entwickelten. Sie selbst wollten diesen Unterricht freiwillig, sie waren glücklich darüber, diesen Unterricht so entwickeln zu können. Sie schilderten immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise: ich gehe mit der Energie der Kinder, die Kinder lernen individuell verschieden in der Freiarbeit und ich gestalte dafür die vorbereitete Umgebung. Alle zentralen Elemente eines differenzierenden Unterrichts wurden benannt.

Reformschulen

Das war auch möglich, weil es meist Schulen waren, die vorher schon reformpädagogisch gearbeitet hatten. Sie wussten also was Freiarbeit, was innere Differenzierung ist, weil sie das als reformorientierte Schulen kannten, egal auf welches Modell, zum Beispiel Petersen, Montessori oder Freinet, sie sich bezogen. In Berlin gab es zum Beispiel eine Gruppe namens »Spinnendifferenzierung«, das bedeutete so etwas wie vernetzte Binnendifferenzierung. Besonders viele Berliner Persönlichkeiten wie zum Beispiel Gisela Ahlers, geb. Scheperjans, Ulla Widmer-Rockstroh, Helene Buschbeck oder Hildegard Kasper waren aktiv, um Unterricht zu öffnen. Ich betone noch einmal: Im Grunde waren alle wichtigen Elemente von inklusivem Unterricht, wie er heute entworfen wird, nicht nur in Berlin, sondern an vielen Orten der alten Bundesrepublik schon da.

Digitalisierung

Ein Aspekt, der noch nicht verbreitet war, war das Lernen mit Computern. Aber es wurde bereits immer wieder formuliert, dass es mit Integration nicht nur um behinderte Kinder geht, sondern um individuelle Lernmöglichkeiten jedes Kindes, zum Beispiel auch schnell lernender Kinder.

Andere Heterogenitätsdimensionen

Andere Heterogenitätsdimensionen wurden noch nicht durchgängig so betont wie heute, also zum Beispiel Geschlechterperspektiven oder interkulturelle Perspektiven, aber auch sie wurden schon punktuell berücksichtigt. Im Grunde gehörten also die wesentlichen Bausteine dessen, was wir heute Inklusion nennen, damals in diesen Modellversuchen schon dazu. In der Praxis sowie in den zahlreichen wissenschaftlichen Begleitungen kreiste viel Aufmerksamkeit um die Didaktik der inneren Differenzierung, um die professionellen Beziehungen in den Teams und um die Beziehungen der Kinder untereinander.

Negatives (Selbst-)Bild der SchülerInnen der Sonderschule

Das Sonderschulwesen, vor allem Hilfsschulen, also Schulen für Lernbehinderte, wurde in den 1970er Jahren ausgebaut. Ich hatte als Sonderschullehrerin konkret miterlebt, wie furchtbar es für manche Kinder war, dass sie in eine besondere Schule geschickt wurden. Ein Beispiel, an das ich mich deutlich erinnern kann: Ein schon etwas älterer Schüler, er besuchte etwa das 5. oder 6. Schuljahr, war in die Sonderschule überwiesen worden und kam neu in meine Klasse. Wir planten zu der Zeit einen Schulausflug und er sagte, er gehe nicht mit. Ich habe das überhaupt nicht verstanden und habe dann argumentiert, warum nicht, wir machen den Ausflug zusammen, na klar kommst du mit. Der Schüler blieb bei seinem Nein und fing irgendwann an zu weinen. Ich fragte immer weiter und dann kam endlich heraus: Die Nachbarn und die Familie durften nicht wissen, dass er auf einer Sonderschule war, aber die Wanderung sollte an dem Bauernhof vorbeiführen, von dem er kam. Es ist mir bis heute eindrucksvoll in Erinnerung geblieben, dass es für dieses Kind eine Schande war, auf die Sonderschule zu gehen.

Intelligenz­diagnostik

Und ich erinnere noch viele ähnliche Situationen. Wir sind ja als SonderschullehrerInnen durch die Lande gereist, im Umfeld der Schule und haben Kinder getestet, um eine Sonderschulbedürftigkeit festzustellen. Dabei fiel oft die Problematik punktuell gewonnener Testergebnisse auf, vor allem ihre mangelnde Prognosesicherheit. Natürlich habe ich auch gesehen, dass es für manche Kinder auch erleichternd sein konnte, eine bedrückende Situation in der Regelschule verlassen zu können und innerhalb der Sonderschule nicht zu den »schlechten« SchülerInnen zu gehören, allerdings war das Stigma damit nicht beseitigt. Und so habe ich vor allem erlebt, dass es für viele eine Quelle von Not und Selbstzweifeln war, in eine besondere Schule für die, die die Regelschule nicht schaffen, gehen zu müssen.

KollegInnen

Als ich dann, wie ich bereits erzählt habe, später die integrative Pädagogik mit ihren ausgefeilten Konzepten der Binnendifferenzierung für heterogene Lerngruppen kennenlernte und gleichzeitig Zugang zu theoretischen Ansätzen des »Denkens der Verschiedenheit« bekam, erschlossen sich neue Perspektiven. Wertvoll war vor allen Dingen in Frankfurt die Kooperation mit vielen Menschen im Fachbereich Erziehungswissenschaft am Institut für Sonder- und Heilpädagogik und in Gruppen, zum Beispiel feministischen Theoriegruppen, die wir zu der Zeit bildeten. Inspirationen im Hinblick auf psychodynamische Prozesse kamen von Helmut Reiser, die Aufmerksamkeit für soziale Strukturen, die in der Soziologie untersucht werden, von Helga Deppe. Dann gab es andere pädagogische Mitarbeiter, zum Beispiel Helga Schön, Ilse Abé oder Hans Eberwein, Ali Bill und Jan Peper. Johanna Ab und Hans Georg Rockemer waren zuvor am gleichen Institut gewesen. Ich habe, als ich aus dem Schuldienst an die Universität wechselte, Hans Georgs Dienstzimmer im »Turm« in Frankfurt bezogen, darin hatte er noch einen lustigen Brief für mich hinterlassen; er lebt leider nicht mehr und der Turm steht nicht mehr. Die KollegInnen im Institut für Sonder- und Heilpädagogik in Frankfurt waren für mich sehr wichtig. Es gab ein ganz besonders gutes Klima, außerordentlich kollegial und förderlich und sehr freiheitlich. Es war wirklich eine Stimmung von Freiheit und wechselseitiger Unterstützung und von intellektueller Inspiration. Ich konnte damals immer mal wieder auch noch erleben, dass meine Themen, zum Beispiel Differenztheorien oder Frauenforschung, verlacht wurden. Das hat mich nicht weiter gestört, weil ich wusste, wie spannend es war, dazu zu recherchieren und darüber nachzudenken.

Welche eigenen Interessenschwerpunkte waren für dich besonders relevant?

Beginn der Frauenforschung

Es war eine tolle, aufregende Zeit. Das schönste war, so viel Neues zu entdecken und darüber nachzudenken. Gemeinsam mit anderen jungen Frauen, die aus verschiedensten Fächern kamen, lasen wir unter anderem die Texte von Luce Irigaray. Wir fieberten der deutschen Veröffentlichung ihres Buches Speculum de l’autre femme entgegen, es wurde 1974 in Frankreich veröffentlicht und ist 1980 auf deutsch bei Suhrkamp erschienen. Damals entstand die Frauenforschung: die Frage nach der Bedeutung von Geschlechterdifferenzen, daran war ich intensiv mitbeteiligt. Ich gehörte ja mit zu den ganz wenigen, zu den ersten, die in der Sonderpädagogik auch Frauenforschung machten.

Was hast du da gemacht?

Geschlechterstudien

Ich schrieb meine Dissertation über Schulversagerinnen. Es ging darum, nach der Ausgrenzung von Sonderschülerinnen zu fragen. Es bildeten sich mehrere Initiativgruppen der Frauenforschung an der Universität Frankfurt am Main. Wir haben Veranstaltungen organisiert, Frauenwochen oder feministische Ringvorlesungen. Wir fingen in diesen Kreisen an über viele Themen zu arbeiten, es waren die ersten Kolleginnen zum Beispiel aus der Geistigbehindertenpädagogik dabei, die zur Situation von Mädchen geforscht haben. Es kamen dann auch nach und nach Kollegen dazu, die über das Thema Jungen in der Sonderpädagogik arbeiteten, auch im Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik oder der Psychoanalytischen Pädagogik. Ich fühlte mich zu Hause in den Geschlechterstudien und in der Integrationsforschung.

Die »Pädagogik
der Vielfalt«

In jenen Jahren war ich aktiv in Projekten, in denen die Frauenforschung und die Integrationsforschung entstanden. In einem von Helga Deppe und Helmut Reiser geleiteten DFG-Projekt zur Integration in der Grundschule haben wir die ersten sieben integrativen Modellversuche evaluiert und in der Zeit vor 1990 den Projektbericht geschrieben, der als Buch vorliegt. Nicht gleichermaßen intensiv zu Hause war ich in der interkulturellen pädagogischen Forschung, aber darüber habe ich viel gelesen. Alle diese Denkrichtungen existierten noch getrennt voneinander.

Gemeinsamkeit
der Konzeptionen

Es gab einen Moment, in dem konnte ich plötzlich einen Zusammenhang erkennen. Es konnte sichtbar werden, was all diese aus sozialen und pädagogischen Bewegungen hervorgehenden Denkrichtungen verbindet. Es geht doch allen gemeinsam um die Frage nach Gleichheiten und Differenzen zwischen Menschen. Plötzlich kam die Frage danach auf, ob alle diese Konzeptionen etwas gemeinsam haben könnten.

Pädagogik
der Vielfalt

Daraus ist dann eine langjährige intensive Suche entstanden, die schließlich zu meiner Habilitationsschrift Pädagogik der Vielfalt führte, die 1989 abgeschlossen war und 1993 veröffentlicht wurde. Ich hatte Glück, denn dadurch, dass ich in Frankfurt lebte, konnte ich an vielen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Vorlesungen und Seminaren teilnehmen und ich konnte viel von den zu der Zeit dort rezipierten Differenztheorien lernen. Ich brauchte sehr viel Zeit, sehr viel Lektüre, sehr viele Diskussionen, um zu untersuchen, wie all diese verschiedenen integrativen, feministischen und interkulturellen pädagogischen Konzeptionen sich unterscheiden und wie sie unter bestimmten Gesichtspunkten auch gemeinsam betrachtet werden können. Das war ja damals noch neu. Auch meine Wohngemeinschaft in der Frankfurter Schlossstraße war ein Ort der intellektuellen Auseinandersetzungen. Mit der Psychologin Margareth Weidner verbindet mich bis heute eine Freundschaft, sie lebt jetzt in Berlin. Das Habilitationsverfahren fand dann an der TU Berlin statt, begutachtet von Ulf Preuss-Lausitz aus der Integrationsforschung, der mich sehr zuverlässig unterstützt hat und von Barbara Schaeffer-Hegel aus der Frauenforschung.

Gestalttherapie

Zu den für mein weiteres persönliches und berufliches Leben wichtigen Einflüssen jener Phase gehörte auch eine Auseinandersetzung mit Gestalttheorie, Gestalttherapie, Gestaltpädagogik, Psychoanalyse und psychoanalytischer Pädagogik. Ich lernte in San Francisco, vermittelt durch Wiltrud Kraus-Kogan, die Psychoanalytikerin und Mitbegründerin der Gestalttherapie, Lore Perls, kennen und es entstand eine langjährige Freundschaft, die bis zu ihrem Tod im Jahr 1990 dauerte. Sie unterstützte mich, ebenso wie meine Frankfurter Freundin Ute Wirbel, darin, nach Zusammenhängen zwischen persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu fragen.

In diesen Jahren kam ich während des DGFE-Kongresses in Heidelberg mit Hanno Schmitt zusammen, wir gründeten eine kleine Familie und bekamen unseren Sohn. Wir lebten eine Zeit lang zwischen Marburg an der Lahn und Frankfurt am Main. Ich hatte Lehraufträge unter anderem an den Universitäten Marburg, Gießen und Darmstadt und bot Lehrerfortbildungen in Frankfurt und Marburg an.

Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft

Die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft wurde mir seit dieser Zeit immer wichtiger. Sie bot mir Gelegenheit zur Beteiligung in vielen Kommissionen und Sektionen, unter anderem der Schulpädagogik, der Sonderpädagogik, der Sozialpädagogik, der psychoanalytischen Pädagogik, der Bildungsphilosophie sowie der Frauen- und Geschlechterforschung, wo bereichernde Freundschaften mit Rita Casale, Isabell Diehm und vielen anderen entstanden.

Und was kam nach Frankfurt?

Werdegang –
Frankfurt, Paderborn, Halle, Potsdam, Frankfurt, Reckahn

Es hat nicht mehr lange gedauert, bis eine neue Phase begann. Schon als das Habilitationsverfahren noch gar nicht ganz abgeschlossen war, kam eine Ausschreibung von der Universität Paderborn für eine Professur in der Grundschulpädagogik und Frauenforschung. Als die Frauenforschung damals Einzug hielt an den Universitäten, richtete Nordrhein-Westfalen 20 Professuren an verschiedenen Orten ein, immer kombiniert mit einem anderen Fach. In Paderborn war es Frauenforschung und Grundschulpädagogik. Ich war ja auch ausgebildete Grund-, Haupt- und Realschullehrerin und hatte durch die Integrationsforschung im Bereich der Grundschulforschung geforscht. Also war ich eine der ganz wenigen die überhaupt einschlägig für die Stelle ausgewiesen waren. Man könnte sagen, dass mich die Integrationsforschung wieder re-integriert hat in die Grundschulpädagogik, aus der ich ursprünglich gekommen war. Und ich arbeitete dann einige Jahre an der Universität Paderborn, das war eine gute Zeit. Inzwischen hatte sich die deutsch-deutsche Wiedervereinigung ereignet mit der Folge, dass viele Stellen in der Erziehungswissenschaft in Ostdeutschland ausgeschrieben wurden und ich landete auf einer Professur in Halle. Acht Jahre lang arbeitete ich mit großer Freude in einem spannenden Kreis von KollegInnen an der Universität Halle mit einem Stellenprofil der Grundschulpädagogik ohne weitere Zusätze. Das Institut für Grundschulpädagogik befand sich zunächst noch in dem Städtchen Köthen und zog dann um nach Halle in das herrliche historische Ensemble der Franckeschen Stiftungen. Es war äußerst bereichernd die Welt und die Menschen in Sachsen-Anhalt kennenzulernen. Natürlich habe ich in Lehrveranstaltungen, in Studien, Publikationen und Vorträgen die Themen der Pädagogik der Vielfalt behandelt und weiterentwickelt.

Qualitative
Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft

Ein weiterer Schwerpunkt ging aus dem Forschungskolloquium, das ich schon in Paderborn mit Barbara Friebertshäuser gegründet hatte, hervor: Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. In der Köthener und später in der Hallenser Zeit wurde Friederike Heinzel Mitarbeiterin in meinem Arbeitsbereich, sie brachte unter anderem die Perspektive der Kindheitsforschung ein. Eine langjährige Freundschaft entstand. Auch mit Ute Geiling freundete ich mich intensiv an. Mit Kerstin Merz-Atalik hatte ich gemeinsame Lehrveranstaltungen.

Und dann kam Potsdam?

Nach acht Jahren an der Universität Halle erhielt ich einen Ruf nach Potsdam, wo ich ebenfalls acht Jahre arbeitete. Hier war meine Professur ausgeschrieben für Anfangsunterricht, Soziales Lernen und Integration Behinderter. Zu der Zeit kam es auch zu Forschungs- und Fortbildungs-Kooperationen zu frühpädagogischen Themenfeldern mit Fachhochschulen in Berlin und Potsdam und mit dem Deutschen Jugendinstitut in München. In Kooperation mit Ute Geiling und Katrin Liebers sowie mit dem Lisum (Landesinstitut für Schule und Medien) Brandenburg entstanden Forschungsprojekte zum Thema Leistungsdokumentation und pädagogische Diagnostik in heterogenen Lerngruppen sowie mehrere Vorhaben konkreter Schul- und Einrichtungsbegleitforschung.

Pädagogische Beziehungen

Nach 40 Jahren an vier Universitäten begannen im Jahr 2010 mein Ruhestand und die Chance, noch einmal neu zu entscheiden, um welche Schwerpunkte es gehen sollte. Weiterhin befasse ich mich in wissenschaftlichen Vorhaben in Forschung, Lehre und Fortbildung mit Inklusionspädagogik, genauer: mit den elementaren Bausteinen der Pädagogik der Vielfalt. Dabei sind mir die Weiterentwicklung der theoretischen Grundlagen sowie die Klärung der inklusiven pädagogischen Diagnostik als unerlässlicher Bestandteil der alltäglichen Didaktik wichtig. Darüber hinaus habe ich eine thematische Zuspitzung gewählt, und zwar das Thema »Pädagogische Beziehungen«. Es betrifft wesentliche Aspekte jeder Pädagogik. Die Qualität pädagogischer Beziehungen beeinflusst in allen Bildungsstufen psychosoziale Entwicklungen, kognitive Lernprozesse und gesellschaftliche Sozialisation maßgeblich. Ich konnte endlich ein seit Langem entstandenes Forschungsinteresse, theoretische und empirische Studien zu sozialen Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern, ins Zentrum rücken. Gegenwärtig habe ich auch wieder enge Beziehungen zur Universität Frankfurt, weil ich dort als Seniorprofessorin in der erziehungswissenschaftlichen Lehre arbeite. Ein halbes Stundendeputat, also zwei Lehrveranstaltungen im Semester, habe ich sehr gern übernommen. Meine Lehrangebote betreffen vor allem die Themenfelder Diversity-Education und pädagogische Beziehungen.

Arbeitskreis Menschenrechtsbildung

Aktuelle Entwicklungen ereignen sich in historischen Zusammenhängen, denn es lässt sich zeigen, dass die Frage nach der Qualität pädagogischer Beziehungen eine lange Vorgeschichte hat. An einem kulturellen Gedächtnisort von nationaler Bedeutung in der philanthropischen Musterschule im brandenburgischen Dorf Reckahn wurde schon im 18. Jahrhundert um einen menschenfreundlichen Umgang mit den Bauern- und Tagelöhnerkindern sowie um eine Erziehung im Geiste der Toleranz gerungen. An diesem Ort ist es mir gelungen, einen Arbeitskreis Menschenrechtsbildung zu initiieren, der seit sechs Jahren regelmäßig tagt und in dem insgesamt mindestens 150 Personen mitgewirkt haben. In den Jahren 2016 und 2017 konnte ein Manifest namens »Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen« erarbeitet werden.

Integration – Inklusion?

Der pädagogische Integrationsbegriff muss differenziert betrachtet werden. Man kann drei Bedeutungen unterscheiden, die aus verschiedenen Entstehungskontexten stammen.

In einer ersten Bedeutung enthält integrative Pädagogik die zentralen Elemente der Inklusiven Pädagogik. Integrative Pädagogik ist hier zu verstehen als direkter Vorläufer von Inklusiver Pädagogik, im Grunde in synonymer Bedeutung, die schon im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist, in einer ganzen Reihe von Kindergärten und in den ersten sieben Schul-Modellversuchen. Ein markantes und bekanntes Beispiel ist die Integration im Kinderhaus Friedenau, aus dem die Integration an der Flämingschule in Berlin hervorging, wo seit den späten 1970er Jahren Unterricht in heterogenen Gruppen praktiziert wurde und bis heute praktiziert wird. In der Zwischenzeit kam es zu einer sprachlichen Weiterentwicklung vor allem durch die Behindertenrechtskonvention, sodass nun Inklusive Pädagogik gesagt wird, für das, was hier gemeint ist: Die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen in einer gemeinsamen Kita und einer gemeinsamen Schule, die Kinder und Jugendliche nicht in andere besondere Institutionen ausgrenzt. Diese Pädagogik heißt heute Inklusive Pädagogik oder in synonymen Bedeutungen Pädagogik der Vielfalt und Diversity-Education.

Eine zweite Bedeutung von Integration hat eine andere Tradition, sie kommt unter anderem aus der Tradition der integrativen Gesamtschule. Die integrative Gesamtschule will auf jeden Fall Schüler weitgehend gemeinsam unterrichten, mit dem wichtigen Ziel, dass möglichst viele SchülerInnen gefördert werden, vor allem benachteiligte Kinder, Mädchen, Kinder aus der Arbeiterschicht: möglichst viele sollen zum Abitur kommen. Mit dem Ziel Chancengleichheit zu realisieren sind die integrativen Gesamtschulen eingerichtet worden. In dieser Perspektive von Integration hatte man ursprünglich konzeptionell noch keinen Zugang zu Kindern, die vor allem kognitiv, aber auch körperlich nicht der Vorstellung von erfolgreichem Lernen entsprachen. In ihrer Logik, möglichst viele Schüler zum Abitur zu bringen, war wenig Platz für jenen Teil der Kinder, für die dieses Ziel nicht passend war. Für die engagierten LehrerInnen an Gesamtschulen waren einige wesentliche Anregungen, die aus dem gemeinsamen Unterricht mit behinderten und nichtbehinderten Kindern kamen, neu. Das haben viele in der Gesamtschulbewegung, auch in der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule, als unglaublich befreiend und schön empfunden. Demokratische Differenztheorien wirkten befreiend, weil sie ein theoretisches Modell angeboten haben, welches auch für Kinder mit schwereren Beeinträchtigungen passend war. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich sollen Kinder und Jugendliche kognitiv intensiv gefördert werden, für die die Idee nicht zutreffend ist, dass sich Erfolg daran misst, dass möglichst viele zum Abitur kommen. Anerkennung von Differenz ist nicht affirmativ zu verstehen, sondern als Wunsch persönlichen Potenzialen Raum zu geben.

Es gibt noch eine Art die Begriffe Inklusion und Integration zu unterscheiden, zum Beispiel bei dem Inklusionsforscher Frank J. Müller. Dann wird Inklusion als eine sehr weit fortgeschrittene, gut gelingende Form von Arbeit mit heterogenen Lerngruppen aufgefasst, während man mit Integration Ansätze, die sich auf dem Weg dahin befinden, bezeichnet. Eine solche Unterscheidung bringt es aber mit sich, dass Integration stets zur Bezeichnung eines realisierten pädagogischen Ansatzes des gemeinsamen Lernens in heterogenen Gruppen verwendet werden müsste, denn eine solche Demokratisierung des Bildungswesens bleibt – wie alle gesellschaftlichen Vorhaben der Demokratisierung – immer unvollendbar. Aber auch wenn Inklusion eine dauerhafte, niemals in Reinform abgeschlossene Herausforderung für das Bildungswesen darstellt, muss man diesen Begriff nicht auf seine utopischen Gehalte reduzieren.

Gab es auf dem Weg in Paderborn und Halle und Potsdam dann noch Menschen, von denen du sagen würdest, dass sie besonders wichtig waren?

Philosophie der Menschenrechte

Die Erfahrungen im Schuldienst und die wissenschaftliche Frühphase in Frankfurt haben mich sehr beeinflusst und dann gab es noch einmal neue Einflüsse in Potsdam. Das war entweder 2003 oder 2004. Eines Morgens lese ich Zeitung hier in Potsdam und sehe eine ganz kleine Notiz: Vortrag von Heiner Bielefeldt, »Philosophie der Menschenrechte«, am Neuen Palais im Philosophischen Institut. Und ich war wie elektrisiert, da muss ich hin. Habe ich überhaupt Zeit heute Abend? Oh Wunder, in meinem Kalender steht nichts. Ich kann dahin. Ich bin zum Vortrag gegangen und Heiner Bielefeldt sprach über die Philosophie der Menschenrechte nach Kant. Ich habe neu begriffen, dass die menschenrechtlichen Prinzipien das zum Ausdruck bringen, was ich immer versucht habe unter Pädagogik der Vielfalt zu entwickeln. In meinen früheren Studien kommen die Menschenrechte schon als regulativ vor, aber noch nicht an zentraler Stelle, noch nicht so ausgeführt. Jetzt wurde mir klar, dass die menschenrechtlichen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität für die inklusive Pädagogik der Vielfalt grundlegend sind. Gleiche Rechte für alle werden angestrebt, die Freiheit, verschieden sein zu können, soll allen zugutekommen und Solidarität wird füreinander aufgebracht, um gleiche Freiheit wechselseitig anzuerkennen. In dem Ansatz, der von Heiner Bielefeldt vertreten wird, wird nicht ein falsch verstandener Gegensatz zwischen Gleichheit und Freiheit aufgemacht. Sondern Freiheit ist unter anderem nach Kant das, was den Menschen in ihrer Menschenwürde zukommt. Gleichheit bedeutet, dass das für alle Menschen gilt! Dass universell jeder daran teilhaben soll und dass kein Mensch davon ausgeschlossen sein darf, das meint das Gleichheitsprinzip! Was ich früher versucht habe als egalitäre Differenz zu formulieren, war also schon längst in den Menschenrechten auf wunderbare Weise ausgearbeitet worden und ich sah auf neue Weise, dass wir in einer ganz langen Tradition damit stehen und dass diese Einsichten auf der ganzen Welt relevant sind. Es geht um die Menschenrechte, wie sie in internationalen Dokumenten ausgearbeitet und nicht nur in Europa entstanden sind. Es gibt Spuren der Suche nach mehr Gleichheit und mehr Freiheit aus den verschiedensten Zeiten, immer artikuliert anhand der jeweiligen zeitlich und örtlich möglichen und limitierten kulturellen Mittel. Beeinträchtigungen bei der gesellschaftlichen Realisierung menschenrechtlicher Prinzipien gibt es in allen Kulturen, auch und gerade im Westen, genau darum werden Menschenrechte ja gebraucht.

Was waren aus deiner Sicht die größten Herausforderungen persönlich und auch für das Feld?

Spaltung in der Pädagogenschaft

Ich verstehe nicht, dass einige LehrerInnen und ErzieherInnen so gut mit den verschiedensten Kindern arbeiten können, während andere behaupten, das sei nicht möglich. Erstaunlich, welche guten erfolgreichen Lösungen manche Lehr- und Fachkräfte mit den schwierigsten Kindern finden. Und auf der anderen Seite gibt es viele, die Individualisierung gar nicht wollen, die sich nach wie vor unter Schule eine Lehrerin vorstellen, die an der Tafel steht und da ein Tafelbild malt und das erklärt und die gleichen Fragen an die ganze Gruppe stellt und die Kinder melden sich und irgendjemand kommt dann dran. Rätselhaft ist mir die Spaltung innerhalb der Pädagogenschaft. Sie bedeutet, dass einige so gut mit heterogenen Gruppen arbeiten und wirklich auch Situationen, die man für ganz schwierig hält, so wunderbar meistern. Ich denke da an verschiedene Schulen: Die »Kleine Kielstraße« in Dortmund oder in Berlin die Erika-Mann-Grundschule, die beide einen deutschen Schulpreis gewonnen haben. Die Op de Host Schule in Horst/Holstein hat den Cornelsen Schulpreis gewonnen. Hier haben sich Lehrerinnen zusammengetan, um eine inklusive Schule ohne Ausgrenzung zu verwirklichen, mit dem erklärten Ziel, dass es Erwachsenen und Kindern sehr gut gehen soll. Ulrike Becker, die auch im Frankfurter Institut für Sonderpädagogik ein und aus ging, leitet heute sehr erfolgreich die Refik Veseli Schule in Berlin Kreuzberg, sie ist zugleich apl-Professorin an der Universität Potsdam. Gleichzeitig empfinden viele andere Lehrkräfte alles, was mit Inklusion zu tun hat, nur als Belastung. Diese Spaltung in der Lehrerschaft zu analysieren, ist eine wichtige Aufgabe.

Du hattest es schon angesprochen, welche Bezüge gab es zur Praxis?

Grundlage: Eigene Praxis in Grund- und Sonderschulen

In meiner Praxis als Lehrerin ganz zu Beginn meiner Berufsjahre habe ich viel darüber erfahren, wie Kinder leben, vor allem wie unterprivilegierte Kinder leben. Ich bin in den Häusern von Kindern aus untersten Unterschichten ein- und ausgegangen. Ich kannte die Eltern, ich kannte die Kinder. Ich habe damals erlebt, dass es nicht schwer ist, im Unterricht zu differenzieren. Schule kann natürlich auch oft sehr, sehr schwere Arbeit mit sich bringen, klar ist, dass Schule ein Arbeitsfeld mit ganz großen Herausforderungen ist. Aber dass gerade Differenzierung von vielen so schwierig empfunden wird, habe ich nie verstanden.

Feldkenntnis durch Hospitationen

Nach dem Wechsel in den Hochschuldienst wurden meine zahlreichen Unterrichtsbesuche und die vielen Hospitationsberichte von Studierenden zu weiteren, immer aktuellen Informationsquellen. An all den Universitäten, an denen ich gearbeitet habe, haben Studierende meiner Lehrveranstaltungen in Schulklassen mit und ohne Integration, mit und ohne Inklusion hospitiert. Die Reflexion ihrer Fallberichte in den Seminaren war sehr wertvoll und aufschlussreich.

Forschungsvorhaben an Schulen

Schulforschungsprojekte mit systematischen Studien und jahrelange wissenschaftliche Begleitungen einzelner Schulen, zum Beispiel der staatlichen Montessorischule Potsdam, standen im Zentrum der Arbeit an den verschiedenen Universitäten. Wir haben beobachten können, wie die vorbereitete Umgebung mit instruktiven Materialien – nicht Materialien um nur Übungsaufgaben abzuarbeiten; das auch, aber nicht nur – dazu dient, dass sich jedes Kind von seinem individuellen Stand aus neues Wissen aneignen kann.

Sozialpädagogische Studien

Ich hatte relativ spät dann noch ein sehr schönes Projekt, ein Beobachtungsprojekt an einer Tagungsstätte für Kinder. Ganze Schulklassen haben an diesem Ort einige Tage verbracht. Wir haben diese sozialpädagogische Praxis beobachtet und konnten feststellen, dass die TeamerInnen durchgängig unendlich geduldig und freundlich mit den Kindern umgegangen sind und dass sie sehr kreative Ideen hatten, um mit Grundschulkindern zum Thema Vielfalt zu arbeiten, zu spielen, etwas herzustellen und sie alle möglichen projektartigen Erfahrungen machen zu lassen.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Jahrzehntelange Traditionen der inklusiven Pädagogik

Also es dürfte nicht in Vergessenheit geraten, dass die heutige Inklusionspädagogik eine lange Tradition hat, die in den 1970er Jahren angefangen hat und noch frühere Vorläufer hatte. Wenn man das vergisst, dann schneidet sich die Inklusionsbewegung von ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Erfolgen ab. Es gab aus den frühen Jahren sehr fundierte Erkenntnisse, die früh auch in weitere Entwicklungen des Bildungswesens eingeflossen waren. Wahrscheinlich wären zum Beispiel Vorhaben wie die flexible Eingangsstufe mit Einschulung ohne Auslese und Altersmischung im Anfangsunterricht, die ja in manchen Bundesländern recht verbreitet sind, nicht möglich gewesen ohne die wissenschaftlichen Begleitungen der integrativen Schulversuche. Die wissenschaftlichen Begleitungen dieser Schulversuche produzierten viele Forschungsberichte, die neue Entwicklungen bestärkt haben. Dazu gehörten die Tendenzen zur Zusammenlegung von Haupt- und Realschule, zur Reduzierung des Sitzenbleibens und der Abschulungen aus Gymnasien und Ansätze der Einzelintegration auch an Gymnasien.

Bedeutung der Beziehungsebene

Von Anfang an wurde in den ersten Forschungsprojekten schon sichtbar, dass zahlreiche Schwierigkeiten, die in pädagogischen Situationen, auch in der integrativen oder inklusiven Pädagogik entstehen, auf der Beziehungsebene angesiedelt sind. Früh wurde deutlich, dass Teams miteinander zurechtkommen müssen und dass Kinder miteinander zurechtkommen müssen, wenn das Lernen in heterogenen Gruppen gelingen soll. Von Anfang an war in der Integrationsbewegung eins klar: Es ist nicht einfach damit getan, dass man die Verschiedenen zusammenwürfelt und glaubt, die verstehen sich schon. Beziehungsarbeit mit den Kindern war eine früh formulierte Aufgabe, wurde immer für wichtig gehalten, damit sie lernen können, sich wechselseitig als gleichberechtigt anzuerkennen. Gerade für schwer traumatisierte Kinder, die uns als verhaltensgestört auffallen und so bezeichnet werden, ist das Herstellen und Aufrechterhalten von guten Beziehungen, vor allem einer guten und Halt gebenden Beziehung zu einer Pädagogin oder einem Pädagogen, von existenzieller Bedeutung. Das ist nicht einfach, aber es ist möglich und dazu braucht man Supervision und regelmäßige Teambesprechung. Dazu gibt es auch wissenschaftlich evaluierte Modelle, zum Beispiel das »Projekt Übergang« von Ulrike Becker. Wenn Teambesprechungen und Supervision regelmäßig, dauerhaft und verbindlich praktiziert werden, werden auch Halt gebende pädagogische Beziehungen möglich. Natürlich sind gute pädagogische Beziehungen für alle Kinder und Jugendlichen wichtig, nicht nur für traumatisierte Kinder in riskanten Lebenslagen.

Kinderrechts­konvention

Die Kinderrechtskonvention bringt bestimmte Impulse in die Inklusion, vor allem stärkt sie die Partizipation von Kindern. Wenn in den Schulen Modelle wie Klassenrat, Mitbestimmung und Beschwerdeverfahren eingerichtet werden, können Kinder ihre Nöte und Wünsche anmelden und Verbesserungen anregen. Darin sehe ich eine Bereicherung für die Inklusion und das stimmt mit den inklusiven Prinzipien sehr gut überein.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, eigene und die Anderer?

Freiheit für
Verschiedenheit

Eine wichtige Erkenntnis war, dass die Aufmerksamkeit für Verschiedenheit etwas mit dem Wunsch nach Freiheit zu tun hat. Vielfalt kann zum Ausdruck kommen, wenn Freiheit möglich ist, und zwar gleichberechtigt für jeden! Darin sehe ich einen existenziellen Zusammenhang, der persönlich und professionell bedeutsam und der immer wieder neu zu entdecken ist.

Alltägliche Erfahrungen und Theoriebildung

Meine Arbeit ist so ausgerichtet, dass ich mich mit dem täglichen Leben, das in Schulen oder in Kindertagesstätten stattfindet, verbunden fühle und zugleich nach Verknüpfungen mit theoretischen Aussagemöglichkeiten, einschließlich empirischer Erkenntnisse suche. Sozialphilosophische Konzeptionen mit Alltagserfahrungen von Menschen zu verbinden, das ist ein Interesse, das mich beflügelt. Damals in den 1970er und 1980er Jahren, als die Differenztheorien aus Frankreich hier aufkamen, merkte ich plötzlich, dass das, was dort in abstrakten Denkfiguren theoretisch erörtert wurde, Anknüpfungsmöglichkeiten zur Pädagogik mit heterogenen Lerngruppen bot. Manche PhilosophInnen haben mit Metaphern gearbeitet, die auch pädagogisch bedeutsam sind. Zum Beispiel Patchwork, Patchwork der Minderheiten von Jean-François Lyotard war ein Bändchen im Merve-Verlag. Eine Leidenschaft für Heterogenität, für Verschiedenes, wurde von zwei getrennten Welten her angeregt, von pädagogischen Arbeitsfeldern und von sozial- und bildungsphilosophischen Theorien. Faszinierend war, dass solche Imaginationen von Pluralität nicht zu Trennungen und Isolation führen mussten, sondern dass Verschiedenes in einem gemeinsamen Raum, in einem gemeinsamen Rahmen, Platz hat, wo es sich wechselseitig bereichern und dynamisch verändern kann.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachtest du für besonders wichtig?

Gleichheitstheorien

Ich kann in diesem Interview leider nur wenige der umfassenden Grundlagen andeuten. Neben Inspirationen aus der Postmoderne gab es noch ganz andere Grundlagen, zum Beispiel Gleichheitstheorien. Der Historiker Otto Dann hat in seiner Habilitationsschrift und im Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland die Entwicklung des Denkens der Gleichheit über Jahrhunderte dargestellt. Er hat, ebenso wie Rechtstheoretiker oder auch die feministische Soziologin Ute Gerhardt herausgearbeitet, dass man von Gleichheit nur sinnvoll reden kann, wenn man Hinsichten bestimmt. Also Wilhelm Windelband hat das 1910 schon so formuliert: »Gleichheit ist ein Verhältnis in dem Verschiedenes zu einander steht«. Dieses Verhältnis wird in der Philosophie der Menschenrechte ausbuchstabiert und verbindlich gemacht. Soziale und pädagogische Bewegungen orientieren sich daran, wenn sie für ihre Gruppen Gleichheit und Freiheit für Verschiedenheit fordern. Zum Beispiel für sexuell unterschiedliche Lebensweisen die Anerkennung fordern. Wenn sie sich an den Menschenrechten orientieren, gehen sie aber über ihre Partialinteressen hinaus und wollen universelle Anerkennung auch für andere Gruppierungen.

Normative Ordnungen

Bereichernd sind Theorien zu normativen Ordnungen, wie sie im Exzellenzcluster an der Universität Frankfurt in der Folge der kritischen Theorie heute in interdisziplinären Projekten entworfen und entwickelt werden. Man könnte die Auseinandersetzung zwischen dem segregierenden Schulwesen und dem inkludierenden Schulwesen als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen normativen Ordnungen begreifen, die verschiedene Rechtfertigungsnarrative ins Feld führen, um zu begründen, dass die segregierende oder die inklusive Ordnung besser ist.

Kulturelles Gedächtnis

Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, wie sie unter anderem von Aleida Assmann formuliert wurde, regt dazu an, gegenwärtiges Geschehen in längerfristigen historischen Kontexten zu verorten. Historische Sichtachsen eröffnen spannende Einsichten. So lassen sich zum Beispiel variantenreiche historische Formen der Kritik der Gewalt gegen Kinder oder der hierarchiekritischen Anerkennung von Differenzen entdecken.

Welche empirischen Forschungen erachtest du für besonders wichtig?

Wissenschaftliche Begleitung von Modellversuchen

Da könnte man unendlich viele Studien heranziehen. Manche sagen, es gebe nicht genug empirische Forschung zur Inklusion, dies sehe ich ganz anders. Es gibt eben eine Welle von Forschungen aus den Anfangszeiten der Inklusion, weil alle Modellversuche wissenschaftlich begleitet wurden. Das ist eine Forschungsrichtung, die teilweise zu wenig beachtet wird. Aktuelle empirische Studien, zum Beispiel von Ulrich Vieluf oder von Petra Stanat und Hans Anand Pant sowie von vielen anderen, zeigen die kognitive Entwicklung von Kindern in heterogenen Gruppen auf.

Internationale Forschungen

Die Untersuchungen von Winfried Kronig aus der Schweiz zeigen immer wieder auf, wie bestimmte Strukturen dazu führen, dass es Menschen gibt, die in diese Strukturen passen. Segregierende Strukturen produzieren ihre Abnehmer, diese Erkenntnis war von Jakob Muth vor vielen Jahrzehnten schon formuliert worden. Aber es gibt auch aus vielen Traditionen der angloamerikanischen Pädagogik und der pädagogischen Psychologie zahlreiche Forschungsrichtungen, die Elemente der inklusiven Pädagogik unterstützen. Dazu gehören die Bedürfnisforschung, die Bindungsforschung, die Studien von Pianta zu pädagogischen Beziehungen, die Forschungen zum formativen Assessment und zum stereotype threat. Auch die Forschungen zum Führungsstil und zum Unterrichtsstil in der Folge von Kurt Lewin oder Tausch & Tausch. Aktuell sind Studien, die die weltberühmte französische Philosophin Julia Kristeva gemeinsam mit dem französischen Sonderpädagogen Charles Gardou publiziert. Sie schlagen vor, im Sinne einer neuen, pluralitätsbewussten Aufklärung, jedem zu gewähren, seinen ureigensten Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten.

Was waren aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Kategorien:
Schubladendenken?

Gestritten wird darüber, ob man Kategorien für Behinderungsarten verwenden soll. Manche Inklusionsbefürworter lehnen Kategorien für Behinderungsarten ab, sie vertreten einen a-kategorialen Ansatz. Konsens ist die Kritik an Schubladisierung, an Etikettierung durch Kategorien und damit an Festlegungen von Menschen. Diese Kritik an Stigmatisierung betrifft alle Kategorien, die man für Menschen finden kann, egal ob es sich um (Sub)Kulturen, Ethnien, Geschlechter oder eben leistungsbezogene Zuordnungen handelt. Aber wenn man vollkommen auf Namen für Gruppen von Menschen verzichtet, kann man auch ihre Benachteiligungen nicht mehr erheben und thematisieren. Man kann ohne Kategorien auch kein fachliches Wissen mehr sammeln, also wenn ich zum Beispiel keine Kategorie »Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung« mehr habe, kann ich kein Wissen zu diesem Handlungsfeld sammeln und dann kann ich ausschließlich Einzelfälle betrachten. Aber es gibt sehr viel wertvolles Wissen über den Umgang mit Kindern mit Verhaltensproblemen. Zur Lösung dieses Widerspruchs schlage ich vor, Vorkehrungen zu treffen, um die schädlichen Wirkungen von Kategorisierungen zu vermindern. Man muss immer berücksichtigen, dass Wissen, das aus der kategorialen Schublade kommt, ein allgemeines generalisiertes Wissen ist, das auf den Einzelfall niemals genau zutrifft. Dieses Wissen kann helfen vorläufige pädagogische Hypothesen zu bilden und zu berücksichtigen, dass man nie weiß, inwiefern ein Kind dem entspricht. Ich muss also generalisierendes Wissen mit dem Einzelfall in Beziehung bringen und dafür offen sein, dass es auch nicht stimmen kann, was mir als Regelwissen bekannt ist. Notwendig ist also eine Kombination aus kategorialem Wissen und Fallverstehen.

Äußere
Differenzierung

Dissens kann auch um innere Differenzierung in inklusiven Institutionen entstehen. Umstritten ist eine Stammgruppenzugehörigkeit ohne temporäre Lerngruppen und ohne 1:1-Betreuung. Die radikalste Position wäre, dass ausnahmslos immer alle gemeinsam in der Klasse oder Gruppe lernen, arbeiten und spielen, zu der sie gehören. Eine moderatere Position würde in begründeten Fällen temporäre Lerngruppen oder auch phasenweise eine 1:1 Betreuung zulassen. Es gibt das Argument gegen Inklusion, dass man für Kinder mit psychischen Störungen, die eine 1:1 Betreuung brauchen, Sondereinrichtungen aufrechterhalten müsse. Angenommen ein Kind hätte zum Beispiel in einer Lebensphase derartige Nöte, dass eine einzelne Bezugsperson und ein eigener Raum hilfreich wären, dann kann das in der inklusiven Schule realisiert werden. Dazu braucht es keine Sonderschule. Temporäre Lerngruppen werden für unterschiedlichste Vorhaben gebildet, zum Beispiel auch für Neigungsgruppen, Projektgruppen oder Arbeitsgemeinschaften, sodass Kinder, die bestimmte gemeinsame Interessen haben, zusammenarbeiten können. Im »Projekt Übergang«, das Ulrike Becker für die Arbeit mit den wenigen Kindern, die als extrem schwierig erlebt werden, entwickelt hat, gehört zu einer von allen beteiligten Erwachsenen gemeinsam verantworteten Gestaltung des gesamten Settings die Bildung temporärer Lerngruppen an vier Tagen in der Woche für zwei Stunden und unter höchster Aufmerksamkeit für die Zugehörigkeit zur Stammgruppe. Auf diese Weise soll keine Trennung, keine Stigmatisierung erfolgen, sondern im Gegenteil: mit vielerlei Maßnahmen wird die Zugehörigkeit zu der Herkunftsklasse, in die die Kinder hineingehören, gepflegt. Die Arbeit in der kleinen temporären Lerngruppe für zwei Stunden am Tag ist eine Hilfe und eine Entlastung für alle Beteiligten. Die Evaluation hat ergeben, dass das Modell sehr erfolgreich ist. Inklusive Pädagogik würde sich keinen Gefallen tun, wenn sie dogmatisch sagen würde, wir wollen ausschließlich Lernen in festen Gruppen.

Lernen am gemeinsamen Gegenstand versus Individualisierung

Es gibt auch eine interessante Auseinandersetzung um das Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Ich halte das Konzept des Lernens am gemeinsamen Gegenstand mit innerer Differenzierung, bei der sich alles um ein bestimmtes Lernthema dreht, für sehr wichtig. Zum Beispiel in der Schule Berg Fidel in Münster wird die Arbeit an mathematischen Themen, wie zum Beispiel Dividieren, gemeinsam auf allen in der jeweiligen inklusiven Klasse vorhandenen Niveaustufen praktiziert.

Maria Montessori

Demgegenüber wird zum Beispiel in der Montessori-Pädagogik die innere Differenzierung meist anders hergestellt: die Kinder können in einer täglichen 90-minütigen Freiarbeitsphase an verschiedensten Arbeitsgebieten individuell oder in Kleingruppen arbeiten. Sie können rechnen, mit Sprache arbeiten, mit geografischem Material lernen, denn die vielseitigen Materialien sind in der Klasse vorhanden. Solche Unterrichtsphasen verlaufen völlig fächer- und altersgemischt. Dabei ist die Einzelarbeit zentral, aber sie können auch in kleinen Gruppen arbeiten. Dazu braucht man nicht das Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Ein Ort für die Pflege der Gemeinschaft der ganzen Lerngruppe sind Kreisgespräche. Hinzukommen können gemeinsame Kleingruppenprojekte, individuelle Projekte und schulweite Projekte. Verbinden lässt sich das Lernen am gemeinsamen Gegenstand problemlos mit Individualisierungen in der Freiarbeit.

Kompetenzraster und Bildungs­standards

Kontroversen gibt es um Leistungserfassung. Es gibt Positionen, die die Arbeit mit Kompetenzrastern oder mit Pensenbüchern ablehnen. Die Kritik daran ist, dass Kinder anders lernen als schematische Rastersysteme abbilden können und das es besser für das kindliche Lernen ist, wenn es in größerer Freiheit und nicht nach linearen Vorgaben konzipiert wird. Ich bin demgegenüber der Meinung, dass Kompetenzraster hilfreiche Strukturen anbieten. Vor allem Lernkräfte, die mit Inklusion und mit der inneren Differenzierung unerfahren sind, können anhand der Kompetenzraster konkrete Vorstellungen zu den individuell passenden Zielen in einem differenzierenden Unterricht entwickeln. Und auch für schon erfahrene inklusiv arbeitende PädagogInnen sind systematische Raster Hilfsmittel zur päda­gogischen Diagnostik. Es gab vor Jahren mal eine sehr interessante Kontroverse in Wittenberg während der Inklusionsforschertagung. Da argumentierte Alfred Sander gegen Bildungsstandards. Er sagte Bildungsstandards und Inklusion sind nicht vereinbar. Und dann erwiderte Barbara Brokamp, auch Kinder in inklusiven Klassen, auch schwerstbehinderte Kinder haben ein Recht auf Bildungsstandards im Interesse ihrer Teilhabe an Bildung, an Kultur. Ich habe versucht eine Synthese aus den beiden Positionen zu bilden, das heißt, die Bildungsstandards sind gültig für alle Kinder, aber nicht als Mindeststandards, nicht als Regelstandards, sondern als individualisierungsfähige Form von Standardisierung. Das heißt, es gilt für alle Kinder in unserer Kultur »Lesen lernen« als Bildungsziel, das ist der Standard. Aber nicht eindimensional, sondern so wie dieser Standard für jedes einzelne Kind persönlich möglich und passend ist. Für ein schwerstbehindertes Kind kann das bedeuten gestische und mimische Zeichen zu entziffern, oder für ein geistigbehindertes Kind Piktogramme erkennen zu können. Oder für ein Kind auf einer anderen Stufe erste Wörter zu entziffern, während ein Kind auf einer noch anderen Stufe lernt ganze Geschichten zu lesen und zu verstehen. Für alle gilt der Bildungsstandard lesen im weitesten Sinne und der wird radikal individualisierungsfähig aufgefächert. Um zu strukturieren und zu vermitteln, dass die Erwachsenen verantwortlich sein können für bestimmte Kompetenzen, die kulturelle Teilhabe ermöglichen, kann man Standardmodelle entwickeln, die von elementarsten Stufen für schwerstbehinderte oder ganz kleine Kinder bis zu hochdifferenzierten Stufen die Entwicklungen enthalten. Man muss dabei keineswegs davon ausgehen, dass jedes Kind genauso linear lernt wie es in den Stufen steht. Die Stufen sind nur ein Hilfsmittel. Manche Kinder lernen ganz anders, die überspringen vielleicht eine Stufe oder fallen wieder zurück, machen Umwege, suchen neue Wege. Wenn man das weiß, dann kann man das Hilfsmittel gut nutzen.

Inklusives Curriculum

Darüber hinaus ist unerlässlich, dass zum Lernen im Bereich des von Erwachsenen zu verantwortenden Kerncurriculums ein Lernen anhand frei wählbarer Themen und Interessen der Kinder und Jugendlichen hinzukommt. Inklusive Didaktik beruht auf zwei Säulen: einem individualisierungsfähigen obligatorischen Kerncurriculum und einem fakultativen Kindercurriculum. Die Kombination beider Säulen ist tragfähig für ein inklusives Curriculum. Es ist möglich beide Perspektiven zu berücksichtigen. Dazu braucht es die Bereitschaft komplex und mehrperspektivisch zu denken. Dies sind meine Vorschläge zu Kontroversen um eine inklusive didaktische Theorie des gemeinsamen Lernens und der inneren Differenzierung.

Welche Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik siehst du?

Normativität, Theorie und Empirie

Es gibt eine wissenschaftliche Tradition, in der die Trennung zwischen normativen und empirischen Zugängen betont wird. Demgegenüber halte ich es für wichtig, die normative Komponente, die in jedem Forschungsvorhaben und jedem Bildungsvorhaben enthalten ist, aufzudecken und nicht zu verschweigen. Ebenso wesentlich ist der Zusammenhang zwischen Theorie und Empirie: Eine Bildungstheorie, die nicht auch empirisch fundiert wäre, könnte nicht begründen, inwiefern sie pädagogisch relevant ist. Eine Empirie, die nicht auch theoretisch fundiert wäre, könnte ihr Erkenntnisinteresse nicht stichhaltig begründen. Eine gehaltvolle Theorie der Inklusion ist empirisch fundiert und eine gehaltvolle für Inklusion relevante Empirie ist theoretisch fundiert und stets ist Normativität im Spiel.

Inklusive Schulpädagogik, Erwachsenenbildung, Pädagogik der frühen Kindheit

Verschiedene erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen können voneinander lernen. So können zum Beispiel Konzepte aus der Erwachsenenbildung sehr viel beitragen zur inklusiven Pädagogik in allen Bildungsstufen: Volkshochschulen sind Institutionen ohne Aufnahmeprüfungen und Erwachsene werden in ihrer Eigenständigkeit als partizipativ Teilnehmende angesprochen, davon kann die Schulpädagogik eine Menge lernen. Schulpädagogik kann viel lernen von der Kindergartenpädagogik, vor allem hinsichtlich der Freiheit für Themen und Interessen der Lernenden.

Inklusionsforschung

Integrationspädagogen und -forscher bildeten früher so etwas wie eine kleine interdisziplinäre Community, die sich jedes Jahr zu ihrer Integrationsforschertagung traf. Sie bestand aus engagierten Einzelpersonen unter anderem mit sonderpädagogischer, grundschulpädagogischer, schulpädagogischer, erziehungssoziologischer, bildungsphilosophischer oder pädagogisch-psychologischer Qualifikation. Ich war von Anfang an dabei, die erste oder zweite dieser Jahrestagungen habe ich 1987 in Frankfurt am Main organisiert. In der Zwischenzeit hat sich das Feld der Inklusionsforschung stark verbreitert und verzweigt. Heute forschen viele WissenschaftlerInnen mit den verschiedensten Methoden aus den meisten erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Teildisziplinen zu Inklusion.

Und bezogen auf die verschiedenen Heterogenitätsdimensionen?

Unterschiedliche Perspektiven und Heterogenitätsdimensionen

Es ist möglich zu fragen, welche Unterscheidungen die Arbeit mit verschiedenen Heterogenitätsdimensionen mit sich bringt und welche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen erkennbar sind. Jede Fragestellung eröffnet eine bestimmte Perspektive, die bestimmte Antworten ermöglicht und zugleich andere Antwortmöglichkeiten verdeckt.

Wenn ich eine Perspektive einnehme, die danach fragt, wie sich differente Gruppen unterscheiden, dann wird gruppenspezifisches Wissen möglich. Dann kann man fragen: Welche Erkenntnisse sind relevant für Frauen und Männer, für die Geschlechtergruppierungen und -verhältnisse in ihrer Pluralität, für interkulturelle und transkulturelle Entwicklungen, für Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, für Menschen mit verschiedenen leiblichen, emotionalen und kognitiven Abilities und so weiter. Was ist im Kontext ihrer spezifischen Kollektivität relevant? Was ist darüber hinaus im Hinblick auf intrakollektive Untergruppen sowie für Einzelpersonen in diesen Kollektiven relevant? Was sind ihre spezifischen Partialinteressen in ihrer spezifischen sozialen Lage aufgrund der je spezifischen Form der Hierarchisierung, die sie betrifft? Es ist unerlässlich, immer auch danach zu fragen, wie sich diese Gruppierungen, Untergruppen und Einzelpersonen im Laufe der Zeit verändern, dann finde ich heraus, dass sie nicht mit sich identisch sind, sondern dass sie sich immerzu dynamisch weiterentwickeln und dass ihre Zukunft unvorhersehbar ist. Hier kommt die Kritik an identifizierenden, reifizierenden, essenzialisierenden, also festschreibenden Denkweisen ins Spiel.

Gemeinsame
Perspektiven
verschiedener
Differenzlinien?

Wenn ich in einer weiten Perspektive nach Erkenntnissen frage, die für alle Gruppierungen gemeinsam gelten, werden andere Antworten möglich. Dann kommen intersektionale Überschneidungen und die Auseinandersetzung mit Hierarchien auf allgemeiner Ebene in den Vordergrund. Dann werden menschenrechtliche Aussagen, die sich ja gerade durch ihre Universalität, ihre Geltung für alle Menschen auszeichnen, zentral. Dann kann auch sichtbar werden, dass gruppenbezogene Demokratisierungsansätze, einschließlich der gruppenbezogenen Menschenrechtsdeklarationen der Verwirklichung der Menschenrechte, für alle Gesellschaftsmitglieder dienen wollen. Gegenwärtig werden aus meiner Sicht auch in der Pädagogik Aussagen, die alle Kinder betreffen, immer bedeutsamer, denn so wird betont, dass Kinder in allen Lebenslagen das gleiche Recht auf Beachtung kindlicher Grundbedürfnisse nach Versorgung, Schutz, Bindung, Anerkennung und Anregung haben.

Weder naiver Empirismus noch radikaler Konstruktivismus!

Eine solche perspektivitätstheoretisch fundierte Erkenntnisweise verfällt weder in naiven Empirismus nach dem Motto wir forschen und rechnen und dann haben wir feststehendes Wissen, noch einem radikalen Konstruktivismus nach dem Motto alles Wissen ist nur konstruiert. Fruchtbar finde ich die erkenntnistheoretische Einsicht, dass die perspektivischen Beziehungen zwischen Forschenden und Forschungsgegenständen veränderliches Wissen ermöglichen.

Du hast ja schon gesagt, dass du durch deine Verortung in der Frauenforschung und in der integrativen Pädagogik diese beiden Blickwinkel zusammenbringst und dass auch die interkulturelle Perspektive dazu kam. Kannst du was zu der Zusammenarbeit von diesen drei Bereichen mit anderen ForscherInnen sagen, also gibt es da Vernetzungen, die gut funktioniert haben?

Forschungen zu verschiedenen Differenzlinien?

Die einzelnen an Differenzlinien orientierten Forschungsrichtungen sind legitim und werden dringend gebraucht. Man muss und kann nicht immer alles gleichzeitig denken, weil man viele Perspektiven auf einmal gar nicht einnehmen kann. Man kann ertragreich hochrelevante Forschungsfragen stellen, die sich auf Gemeinsamkeiten verschiedener Gruppierungen beziehen, allerdings bekommt man dann gruppenspezifische Besonderheiten weniger in den Blick. Unser Erkenntnisvermögen, die zur Verfügung stehenden Zeiträume und auch die Textsorten, die Textumfänge sind begrenzt. Jedes Forschungsprojekt beruht auf der Entscheidung für bestimmte Forschungsfragen und sollte seine unerlässliche Begrenztheit möglichst offen legen.

Hintergrund der Frage war, dass die inklusive Pädagogik alle Hetero­geni­tätsdimensionen berücksichtigen will, aber dass sie sich letztlich doch wieder auf die Dimension Behinderung fokussiert und das Andere hinten runterfällt.

Besonderheiten
der Differenzlinie Dis/Ability?

Ja, was ist besonders an der Dimension Dis/Ability? Für alle Gruppen kann man eine assimilatorische Pädagogik entwerfen, mit einer Ausnahme: Disability als geistige Beeinträchtigung steht im Kontext des Bildungssystems wie keine andere Heterogenitätsdimension für Heterogenität und bildet eine der größten Herausforderungen für Bildungseinrichtungen. Wenn der Erfolg von Bildungseinrichtungen – wie in den allermeisten leistungsbezogenen Schulstudien – daran festgemacht wird, ob hohe Schulleistungen als Output zu verzeichnen sind, liegt eine Logik zugrunde, die von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen durchkreuzt wird. Auch für sie ist natürlich eine optimale kognitive Förderung extrem wichtig. Aber sie fordern immer radikal zu einem Denken der Differenz heraus.

Palliativpädagogik

Darum kann die Palliativpädagogik, die sich dem inklusiven Lernen lebensverkürzend erkrankter Kinder widmet, einen überaus wertvollen Beitrag zur allgemeinen Inklusionspädagogik leisten. Sie bringt etwas Befreiendes ins schulpädagogische Denken, weil sie uns lehrt Kinder und Jugendliche anzuerkennen, deren kognitive Leistung weniger wird. Das hat Heiner Bielefeldt in seinem Kommentar zur Behindertenrechtskonvention formuliert, wenn er betont, dass mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen das Denken der Freiheit andere Dimensionen annimmt.

Anerkennung

Demokratietheoretisch ist hier wichtig, dass es um die grundlegende Anerkennung aller Menschen geht – jenseits der Leistungen, die sie im ökonomischen Sinne erbringen. Das entspricht unserem Grundgesetz, wir haben das Recht auf eine Art Grundsicherung, egal wie ungenügend sie konkret ausfällt, aber wir haben dieses Recht in unserer demokratischen Verfassung. Dass es Grundrechte gibt, die jedem Menschen zustehen, wird durch die Behindertenrechtskonvention gestärkt. Darum ist es am Beispiel von Menschen mit Behinderung einfach am deutlichsten möglich zu verstehen, was eine heterogene Lerngruppe in Schulen und Kindergärten ist. Und ich vermute, dass darum die Differenzlinie behindert/nichtbehindert so oft in den Vordergrund rückt.

Inklusive Pädagogik als die »Allgemeine Pädagogik«

Man vergisst leicht, dass die Herausforderungen, die von jeder Heterogenitätsdimension ausgehen, auf der Grundlage der universellen Menschenrechte auch verschiedene sind. Wenn man daran denkt, dass verschiedene sexuelle Lebensformen anerkennt werden sollen, dass Kinder etwas erfahren sollen über differente Lebensweisen, wird deutlich, dass dies auch Herausforderungen auf einer anderen Ebene von Heterogenität enthält. Insofern kann man sagen, dass jede Perspektive, die sich an irgendeiner Differenzlinie festmacht, eine eigene Bereicherung für das Denken im Sinne einer Allgemeinen Pädagogik ist. Andreas Hinz hat schon ganz früh geschrieben, dass die damals noch sogenannte integrative Pädagogik die eigentliche Allgemeine Pädagogik ist, weil sie wirklich alle Lebens- und Lernweisen, also alle Menschen betrifft. Dieses Einbeziehen von anderen Heterogenitätsdimensionen kommt nie an ein Ende, es ist immer in Bewegung, weil man immer wieder Neues entdeckt, das für Menschen von existenzieller Bedeutung ist, sodass neue soziale Bewegungen und neue pädagogische Konzeptionen entstehen.

Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen siehst du für die Praxis?

Aufgabe: Ausbreitung
in der Fläche

Das Projekt der Ausbreitung in der Fläche. Wie können die Angehörigen pädagogischer Berufe, die bis jetzt noch nicht viel mit Inklusion im Bildungswesen anfangen können, das lernen? Dabei Kinderrechte und Inklusion zusammenzudenken, finde ich auch besonders interessant.

Welche zukünftigen Herausforderungen siehst du für die Forschung?

Fachdidaktische Kompetenzraster

Eine wichtige Aufgabe ist aus meiner Sicht, dass man untersucht, wie man gute, also fachlich angemessene und zugleich für Kinder verständliche Kompetenzraster formulieren kann. Darin sehe ich eine zentrale fachdidaktische Aufgabe für alle Fächer.

Aufmerksamkeit für Fehlverhalten von PädagogInnen

Eine weitere ungelöste Forschungsfrage ist: Wie kann man Entwicklungsarbeit mit Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften leisten, die unprofessionell handeln? Was ist zu tun, wenn Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte sich deutlich fehlverhalten? Dazu gibt es vor allem problematische Lösungen, denn bei wirklichem Fehlverhalten folgen oft nur Versetzungen an eine andere Schule oder Einrichtung, aber keine wirksamen Veränderungen. Es müssen Wege gefunden werden, dass Menschen, die ungeeignet sind für den LehrerInnen- oder ErzieherInnenberuf, eine andere Arbeit finden können. Dazu braucht es juristische Forschung und juristische Maßnahmen. In Deutschland ist das Problem vollkommen unzulänglich geregelt.

Welche internationalen ForscherInnen waren für dich am Bedeutsamsten?

post colonial studies

Interessante Erkenntnisse kommen aus dem, was man post colonial studies nennt.Ich bin zum Beispiel auf Édouard Glissant aus der Karibik aufmerksam geworden, als im »Haus der Kulturen der Welt« in Berlin ein Film mit diesem Philosophen und Kulturwissenschaftler gezeigt wurde. Er hat ein Buch geschrieben Poétique de la Relation, auch über Vielfalt arbeitet er. Seine Philosophie hat eine künstlerische Ausrichtung. Er entwickelt die Metapher des Archipels und spricht von archipelischem Denken. Die verschiedenen Denk-Archipele sind getrennt, haben aber untereinander Verbindungen, um Heterogenes in Beziehung zueinander zu setzen. Er sieht einen Abstand zwischen verschieden Denkweisen, aber sie können einander wahrnehmen, respektieren und beeinflussen.

Interesse an
Globalgeschichte

Im Moment gehe ich manchmal meinem Interesse an welthistorischen Studien nach. Das hat damit zu tun, dass ich schon immer angezweifelt habe, dass die Menschenrechte eine europäische Errungenschaft sind, während alle anderen hinterher hinken. Es ist der Versuch danach zu suchen, wie Menschen zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen sich mit ihren jeweiligen kulturellen Mitteln für ihre Interessen oder auch für die Interessen ihrer Mitmenschen eingesetzt haben. Andere Zeiten und Orte haben natürlich andere Bilder, andere Denkbilder und andere Metaphern hervorgebracht, sie verwenden selbstverständlich nicht gerade die politische Sprache, die seit wenigen Jahrhunderten in Europa oder im »Westen« entwickelt wurde. Aber für eine Reihe grundlegender Ideen finden wir Ausdruckformen auf der ganzen Welt –, sodass es etwas Gleiches zwischen uns als Menschen gibt, dass wir Ungerechtigkeit empfinden, gegen die wir uns empören, dass unsere körperliche Unversehrtheit ein elementarer Wert ist, dass wir in Beziehung zu anderen leben, dass wir wechselseitige Anerkennung brauchen, dass es ethische Verpflichtungen in irgendeiner Form gibt, über die wir am Lebensende vielleicht Rechenschaft ablegen, dass das Generationenverhältnis gestaltet wird und dass dafür »zeigen« kennzeichnend ist. In der Geschichtswissenschaft haben sich neue aktuelle Diskurse der Globalgeschichte entwickelt, die auch solche Themen verhandeln. Dem möchte ich nachgehen, um unser kulturelles Gedächtnis zu pflegen. Das ist ein weiter historischer Horizont von Diversity Studies, sie untersuchen die Frage nach Diversität auf der Basis gleicher Rechte auf der ganzen Welt. Überall können die Menschenrechte dazu dienen, die Wünsche und Forderungen und Sehnsüchte, die in Gestalt von politischen Rechten artikuliert werden, zu stärken.

Haben die italienischen oder skandinavischen Integrationsbemühungen eine Rolle für dich gespielt?

Trauerarbeit nach Milani Comparetti

Für die Integrationspädagogik hat der bedeutende italienische Pädiater Adriano Milani Comparetti eine große Rolle gespielt. Ich konnte in den 1980er Jahren in Frankfurt an einem Workshop teilnehmen, als er noch lebte. Er hat die Einsicht in die Bedeutung von Trauerarbeit vermittelt, Trauerarbeit über eine Behinderung. Ich habe noch den Klang seiner Stimme im Ohr, als er selbst auf Deutsch formulierte »Trauerverarbeitung«. Er verdeutlichte, dass trauern unerlässlich ist, um neue Potenziale freizusetzen. Inklusion ist keine Art Allheilmittel gegen Beeinträchtigungen. Inklusive Pädagogik sollte nicht so tun, als gäbe es keine Beeinträchtigung. Diese Denkweise verdeutlicht in einem weiteren Horizont, dass wir über unsere Begrenzungen und Limitierungen, denen wir unweigerlich existenziell ausgesetzt sind, in Krisen geraten, die einen Trauerprozess erfordern. Gerade indem ich nicht verleugne, dass ich kulturell, geschlechtlich, leistungsmäßig und altersmäßig limitiert bin, dass ich nicht »alles« bin und habe, gerade indem ich diese Limitierungen nicht herunterspiele, entsteht paradoxerweise Freiheit für neue Möglichkeiten. Mit der Anerkennung von Begrenztheit ist hier nicht eine etikettierende Festschreibung gemeint, denn trauernd anerkennen was ist, geht schließlich mit neuer Offenheit für unbekannte zukünftige Entwicklungen einher.

Egalität im finnischen Kollegium

In Finnland hat mich ein Erlebnis beeindruckt, von dem ich erzählen möchte. Ich besuchte eine finnische Schule. Da saß die Putzfrau im Lehrerzimmer mit am Lehrertisch. So viel zum Thema Gleichheit, multiprofessionelle Teams und gemeinsame Verantwortung aller Erwachsenen.

Gibt es aus deiner Sicht noch Sachen, die wir vergessen haben?

Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen

Berichten möchte ich noch etwas mehr über das Projekt zum Thema »Pädagogische Beziehungen«, das ich initiiert habe, an dem zahlreiche Personen mitwirken und das nun in meiner Lebensphase des Ruhestandes eine immerzu weiter wachsende Rolle spielt. Meine ganze Arbeit an diesem Themenfeld beruht auf vielen Jahren persönlicher Erfahrungen zur existenziellen Relevanz persönlicher Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern. Anhand qualitativ-quantitativer empirischer Erhebungen in unserem inzwischen schon etwa 15 Jahre alten interdisziplinären INTAKT-Projekt konnten wir mit guten Gründen vermuten, dass durchschnittlich circa 25% aller pädagogischer Interaktionen als verletzend und 75% als anerkennend und neutral einzustufen sind. In theoretischen Studien bemühen wir uns um die Entwicklung relationentheoretischer Aussagen zur Relevanz von Anerkennung und Verletzung. Wir streben ethische Verbesserungen zunächst vor allem auf der Beziehungsebene in pädagogischen Arbeitsfeldern an. Auf der didaktischen Ebene wollen wir eine differenzierende Didaktik stärken, die an den individuellen Kompetenzen jedes Kindes und Jugendlichen aufbaut. Auf der bildungspolitischen Ebene wollen wir die systematische Förderung guter pädagogischer Beziehungen erreichen. Im Rochow-Museum und Akademie für bildungshistorische und zeitdiagnostische Forschung ist es mir gemeinsam mit insgesamt circa 150 Personen in einem über fünfjährigen Prozess gelungen, die »Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen« zu initiieren. Sie werden herausgegeben vom Deutschen Institut für Menschenrechte, vom Deutschen Jugendinstitut, vom MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam; ihre Verbreitung wird großzügig von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt. Das Vorhaben hat auf zweierlei Weise mit Inklusion zu tun: es dient in inklusiven Kitas und Schulen der Verbesserung inklusiver Prozesse auf der Beziehungsebene und in den segregierenden Teilen des Bildungswesens bahnt es auf der Beziehungsebene integrativere Interaktionsmuster an. Zahlreiche Verbände, Institutionen und Einzelpersonen haben die Reckahner Reflexionen unterzeichnet und sie werden gegenwärtig in andere Sprachen übersetzt. Die Leitung dieses Projekts empfinde ich als eine erfüllende Lebensaufgabe, bei der mir die Erfahrungen aus vielen Berufsjahren zugutekommen. Mein Wunsch ist es, zukünftig Anleitungen auch für Kinder und Jugendliche zu entwickeln, die zwei Perspektiven verbinden: die kinderrechtlich fundierten Ansprüche der Kinder an ihre pädagogisch-professionellen Erwachsenen und die Vermittlung ethischer Prinzipien durch die Erwachsenen an die Kinder.