Interview mit Walther Dreher

Wasserzeichen ⮍ – Symbol eines ›modus vivendi‹ im Anthropozän

»I believe that everyone is born with a destiny or a purpose, and the journey is to find it« (Senge et al., 2004, S. 227).

(Ich glaube, dass jeder mit einer Fügung oder einer Aufgabe geboren wurde und die Reise, auf die wir uns begeben, bedeutet, diese zu finden.)

»Keiner der sucht, sucht nach nichts. Jeder, der sucht, sucht worum er insgeheim bereits weiß, was er insgeheim bereits gefunden hat« (Gebser, 1977, V/II, S. 55).

Gewidmet Professor Dr. Theodor Hofmann (1930–2015) für sein uneingeschränktes Vertrauen, das er mir entgegenbrachte. Prof. Dr. Nicola Cuomo (1946–2016), der mich und viele teilnehmen ließ an seiner Intuition der ›Emozione di Conoscere ed il Desiderio di Esistere‹, Wege zeigte zur ›vincere la paura‹, Angst zu besiegen und Spuren legte, auf die ich heute wieder zurückgefunden habe und die mich in neuer Weise wegweisend begleiten. Gewidmet auch meinen Enkeln Mia Leia Kyoko, Adam Luke, Paul Jakob Fuyuki und Luisa Melina Natsumi, als Zeichen einer ›wissenden Hoffnung‹, dass das, was aus der Zukunft ihnen entgegenkommt, sie zu »Mitschöpfer(n) einer Humansphäre« ruft (Sacks & Kurt, 2013, S. 180).

Rück-Voraus-Blicke

Zum Darstellungsmodus dessen, was hier festgehalten wird, möchte ich vorweg erläuternd anmerken, dass ich mit dem, was ich im Interview mit Frank J. Müller gesagt habe, nach dem Transkript nichts (mehr) anfangen konnte. Vielleicht war ich 2014 schon zu weit vom ehemals professionell aktiven Weg entfernt, oder aber – und das trifft die Sache viel eher – war ich mir selbst der in sich stringenten Ereignis-Kette meines Lebens gar nicht mehr oder noch nicht wirklich bewusst – hatte ich doch bis dahin mehr voraus und weniger zurückgeblickt. Daher bin ich Frank J. Müller tief dankbar, dass er diesen Impuls gesetzt hat, der mich meinen Lebens-Weg noch einmal gedanklich – und in vielen Momenten auch emotional nacherlebend – hat gehen lassen. Ich bin bis in meine Kindheit zurückgegangen, habe ein wenig die Studienzeiten vorbeiziehen lassen und mich retrospektiv vertieft in das, was textlich publiziert wurde. Auf diese Weise sind Haupt- und Nebenwege, wie sie Paul Klee so schön als Bild dargestellt hat, Schritt für Schritt sichtbarer geworden und haben mich zum Heute geführt, von dem aus andere auf analogen Spuren fortfahren können. Ich wäre froh, wenn sich studentische Arbeitsgruppen und vielleicht eine interessierte online-community mit den vorliegenden Rück-Voraus-Blicken befassen würden, um mitzuwirken an dem, was neu in die Welt kommen möchte.

Transzendente Ordnung Narrative Inklusion

›Blick zurück nach vorn‹ erweckt in mir eine Erinnerung an einen der Lehrer aus meinen Tübinger Studienjahren, Martin Wagenschein, dessen Autobiografie den Titel trägt Erinnerungen für Morgen. Im Vorwort schreibt Wagenschein: »Dabei bin ich überzeugt, dass Kausalität nicht ausreichen kann zu fassen, was als Fügung sich besser verstehen ließe« (Wagenschein, 1983, S. 9). Auch in meinem Erinnern werden Spuren freigelegt, von denen manche sich wie ›kausal‹ aneinanderreihend anmuten, viele sich aber eher fügend verstehen lassen. Und so nehme ich heute mein – nicht nur professionelles – Leben in einer Weise ›als wahr‹, die Jaworski in Anlehnung an David Bohm so fasst: »… my life seemed to unfold according to a transcendent order« (Mein Leben schien sich gemäß einer transzendenten Ordnung zu entfalten) (Jaworski, 2012, S. 73). Im Nachhinein nähere ich mich selbst einem solchen Blick auf meine eigenen Lebenslinien. Sie werde ich im Folgenden verstärkend nachziehen, sodass sich die Fragen nach ›Inklusion‹ eng mit meiner persönlichen Vita verknüpfen werden und so (m)eine ›Narrative Inklusion‹ entsteht.

Für mich ist natürlich eine sehr spannende Frage, wie kommen Sie überhaupt zur integrativen Pädagogik, also wie ist Ihr biografischer Zugang dazu?

Ich denke, dass bei jedem oder bei vielen, die im Feld der Pädagogik bei Menschen mit Beeinträchtigungen tätig sind, biografische Elemente in den Berufsweg eingeflochten sind.

Landesirrenanstalt

Ich bin 1940 in Balingen geboren. Meine Mutter war 1943 mit meinem Bruder und mir – mein Vater war als Offizier d.Res. im Krieg – von Balingen nach Zwiefalten auf die Schwäbische Alb zu ihren Eltern gezogen. Wenn ich an diese frühe Kindheit zurückdenke, dann sehe ich mich vor dem alten Zisterzienserkloster Zwiefalten stehen, dessen Gebäude 1812 »königliche Landesirrenanstalt« wurden. Neben der, aus kindlicher Perspektive mächtigen Klosterkirche mit ihrer barocken Pracht, sehe ich noch heute hinter starken Gittertoren auf weitläufigen Grasflächen Menschen ›umherirren‹, hinter Fenstern tauchten ab und zu Gesichter auf und seltsame Laute waren zu hören, die ich als Kind nicht in mein Leben einzuordnen wusste. Auf einem Bauernhof direkt neben dem Kloster waren wohl auch solche Menschen tätig. Ich erinnere mich an einen klein gewachsenen und ›kindhaft‹ aussehenden Mann, der immer ein Holzstöckchen zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, an das eine Schnur von vielleicht zwanzig Zentimeter Länge geknüpft war und das er immer wieder mit großer Geschwindigkeit zwischen den Handflächen drehte, sodass die Schnur zu flattern begann. Sein angespannt lachendes Gesicht schien auszudrücken, dass er sich dabei ›wohlfühlte‹. Ab und zu bewegte er sich unvermittelt in die Hocke, um dann wieder aufzustehen. Wir Schüler der ersten Klasse, für die das Kloster und sein Umfeld Spielplatz waren, machten uns einen Spaß daraus, ihn anzusprechen und zu bitten ›sein Gebet‹ zu sagen. Dann begann er: ›Vaterrr, Mutterrr und Geschwisterrr. Amen. Rrr …‹

Vernichtung in Grafeneck

Nicht weit entfernt von Zwiefalten liegt die kleine Burg Grafeneck, in der 1939 die erste Vernichtungsanstalt für Menschen mit Behinderungen entstanden war. 1940 – in meinem Geburtsjahr – wurden dort fast 10.000 (geistig)behinderte Menschen, auch aus dem nahe gelegenen Mariaberg, vergast. War da eine ›geistige und seelische Atmosphäre‹, in die ich als Kind hineingeboren wurde und in der ich ›ausgesprochene und unausgesprochene Dinge hörte‹ und deren Dunkel ich spürte?

Dorfdepp

1947 sind wir nach Heselwangen umgezogen, einem kleinen Dorf bei Balingen, im dem das großelterliche Haus meines Vaters stand. Dort lebte auch ›Karle‹. Wir Volksschüler der Unterstufe – die Schule war zweiklassig mit Schülern der Klasse 1–4 in einem Raum, die der Klassen 5–8 in einem anderen – hatten unseren Spaß, wenn wir den 10 bis 15 Jahre älteren jungen Mann, der nie eine Schule besucht hatte und für uns der ›Dorfdepp‹ war, zum Weinen brachten, wenn wir sagten, ›Karle, du kommscht nach Mariaberg‹. Karle begann dann zu weinen und mit den Schuhen auf dem Boden zu scharren. Mariaberg bedeutete für ihn nicht nur weg von zu Hause, sondern vermutlich war das Wort Anlass für eine tiefe Angst, – wenngleich er deren Grund wohl wie ich, eher ahnend zu fassen vermochte –, getötet zu werden. Noch heute spüre ich diese sehr dunkle Zeit in mir ›anwesend‹. Liegt hier ein Keim einer Sehnsucht, Menschen nicht auszuschließen oder sie gar zu töten, sondern immer Teil-zu-Sein eines gemeinschaftlich Ganzen und dass sich Mensch und Mensch mit Achtung begegnen?

Ohnmacht

Ich habe selbst einmal hilflos so ein Ausgeschlossen sein erlebt. Noch heute sehe ich die Situation klar vor Augen, ich könnte ein Bild davon zeichnen. Ich war vielleicht acht Jahre alt, als ich mit in einer Gruppe verschiedenaltriger Kinder und Jugendlicher auf einem großen Stapel von ca. zwei Meter langen Fichtenstämmen spielte. Beim rauf und runter Klettern lösten sich die Stämme wohl etwas, verschoben sich und ein kleinerer Junge tat sich dabei weh. Schnell war ein Sündenbock gefunden, ich, der dafür verantwortlich zu sein schien, obgleich ich mich nicht schuldig fühlte, waren doch viele an dem Geschehen beteiligt. Ich wurde von zwei älteren Jungen an den Armen festgehalten und der kleinere durfte auf mich einhauen. Vielleicht war es weniger der Schmerz, als das ohnmächtige ausgeliefert sein und das Unrecht, das ich empfand. Was alles noch schwieriger machte war, dass meine Mutter, zu der ich weinend nach Hause gelaufen war, nicht den Mut hatte, die Gruppe zur Rede zu stellen. Erst viel später ist mir bewusst geworden, dass ihre und meines Vaters ›Nazivergangenheit‹ – meine Mutter war, wohl eher meines Vaters zuliebe, Führerin im Bund deutscher Mädchen (BDM), mein Vater war, wie schon genannt, Offizier und als Lehrer aktiv in der Hitlerjugend –, dass diese ›Seiten‹ der Eltern in einem Dorf, das teilweise ›kommunistisch‹ gesonnen war, mundtot machte. Auch das ›öffentliche Ansehen‹ litt unter dem Status ›entnazifiziert‹ meines Vaters. Dies Schweigen meiner Mutter und ihr hilfloses Bemühen, mich zu trösten ›und alles nicht so schwer zu nehmen‹, verdoppelte meine ›unverschuldete Hilflosigkeit‹. Geblieben ist eine ›Seelenstimmung‹, die mich bis heute begleitet. In bestimmten Lebenssituationen, wie z. B. später in meinen Begegnungen mit sogenannten ›schwerbehinderten‹ Menschen, drängte sich hier und da ein Empfinden auf, dass sie sich vielleicht analog solcher Übermacht von außen ›ausgesetzt‹ wahrnehmen.

Versagen

Wie angemerkt, bin ich als Grundschüler in eine zweiklassige Volksschule gegangen, da war Klasse 1–4 zusammen, genannt Unterklasse und Klasse 5–8, genannt Oberklasse. Ich habe selbst erlebt wie Klassen zusammen unterrichtet werden, aber auch, dass dabei individueller ›Leistungsbedarf‹ zu kurz kommen konnte, was sich bei mir so auswirkte, dass ich die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium – die es damals noch gab –, nicht im ersten Anlauf schaffte. Ich musste ein Schuljahr in der zweiklassigen Dorfschule wiederholen und spüre noch heute, wie schwer sich der erste Schultag für ein weiteres Schuljahr auf meine Schultern legte. In eine peinliche Atmosphäre hinein mischten sich Höhnisches und Abfälliges.

So sehr mir die Jahre des Großwerdens ›auf dem Lande‹ kostbare Erfahrungen geschenkt haben, so sehr waren segregierende soziale Lebensformen einengend und belastend. Noch heute empfinde ich mich in einem ursprünglichen Naturerleben verwurzelt, und ebenso suche ich noch immer Wege, wie unreflektiertes, teils stark ritualisiertes miteinander leben durch bewusst machende Dialoge verändert werden kann. Erst sehr viel später hat mir solches Erleben das ›Wasserzeichentransparent werden lassen.

Volksschullehrer

Nach dem Gymnasium habe ich ab 1960 am Pädagogischen Institut in Stuttgart eine zweijährige Ausbildung zum Volksschullehrer absolviert, um dann danach sofort in eine dreiklassige Dorfschule zu kommen, wo ich bis 1964 die Klassen 1 und 2 unterrichtet habe. Das waren keine großen Klassen, der erste Jahrgang umfasste ungefähr 12 und der zweite 9 Kinder also insgesamt 22 SchülerInnen in einem Klassenraum. Für beide Gruppen gab es unterschiedliche ›Stoffverteilungspläne‹ (heute spricht man von Curricula), zugleich wurden fast alle Erfahrungen gemeinsam geteilt.

Krise

Trotz zweier wunderbarer schulpraktischer Jahre drängte es mich, meinem Wissensdrang Raum zu geben und weiter zu studieren. Von 1964 bis 1971 habe ich an der Eberhard Karl Universität Tübingen die Fächer Pädagogik, Philosophie und Geschichte studiert. Meine Lehrer waren in Pädagogik insbesondere Otto Friedrich Bollnow und Andreas Flitner, in Philosophie ebenfalls Otto Friedrich Bollnow – er hatte einen pädagogischen und einen philosophischen Lehrstuhl inne – und insbesondere Walter Schulz. Auch in diese Zeit fällt eine selbst verschuldete und mich lange belastende Erfahrung. Ich hatte finanzielle Unterstützung nach dem Honeffer Modell beantragt und bin in einer ersten mündlichen Prüfung, durch die ich meinen Studieneifer nachweisen sollte, bei meinem späteren Doktorvater in ziemlich beschämender Weise durchgefallen. Da ich Philosophie und Geschichte als Fächer wählte, benötigte ich das ›Große Latinum‹ – Latein hatte ich in einem neusprachlich-naturwissenschaftlich ausgerichteten Gymnasium nicht als Fach –, das ich innerhalb kurzer Zeit nachholen musste und das mich zwang, mich durch trockene Kurse hindurch zu quälen. Dazu kam die Verlockung, im AStA-Reisereferat anzuheuern, um auf diese Weise als Reiseführer gratis Europa bereisen zu können. Da blieb wenig Raum, um gut vorbereitet bei Bollnow Fragen nach ›Zeit und Zeitlichkeit, Raum und Räumlichkeit‹ beantworten zu können. Durch ein späteres Referat über ›Das Nachholen des Versäumten (!) – Die Zeitschleife‹, konnte ich diese Scharte wieder auswetzen; aber es hat mich lange verunsichert und beschwert, zugleich aber erfahren lassen, wie mir von Bollnow – in ›unverdienter‹ Weise – neues Vertrauen entgegengebracht wurde. So konnte ich mehr und mehr zu mir selber finden und später ist ein fast väterliches Verhältnis zu diesem sensiblen Menschen gewachsen, aus dem ich noch heute Kräfte schöpfe.

Natur als Kultur

Im Tübinger Studium waren es unter anderem die beiden Kölner Wissenschaftler Max Scheler und Helmut Plessner, neben Arnold Gehlen, die mit ihren ›kosmologischen‹ Ansätzen als die Väter einer philosophischen Anthropologie – verstanden als Erweiterung des Kantischen transzendentalphilosophischen Ansatzes – zu nennen sind, welche mein philosophisches Fragen stark beeinflussten. Plessners ›exzentrische Positionalität‹ und Gehlens Interpretation des Menschen als ›Mängelwesen‹ ließen mich verstehen, weshalb es für den Menschen notwendig ist, (s)eine ›Kultur‹ aufzubauen und sie als eine ›künstliche Natur‹ zu gestalten, um eine ›eigene Position‹ zu finden und um Mängel kompensieren zu können. Fazit: Der Mensch ist ›von Natur aus‹ ein ›Kulturwesen‹.

Anthropologie

Vor dem Hintergrund der ›Philosophie als Anthropologie‹ entwickelte Otto Friedrich Bollnow nach dem Zweiten Weltkrieg ›anthropologische Fragestellungen‹ im Kontext von Bildung.

Anthropologische Betrachtungsweise

Bollnows begründete mit seinem Schülerkreis den Ansatz der ›anthropologischen Betrachtungsweise der Pädagogik‹ respektive einer ›Pädagogik in anthropologischer Sicht‹.

Einführung des Subjekts

Hinzu kam die, ebenfalls erst nach den Kriegswirren in der 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt werdende, französische Bewegung des Existenzialismus, verbunden mit Namen wie Jean Paul Sartres, Albert Camus, Gabriel Marcel und der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty. Der Mensch als Natur- und Kulturwesen, die Frage nach der anthropologischen Bedeutung einzelner ›Wesenszüge‹ des Menschen und die existenzphilosophischen Ansätze wurden Hintergrundimpulse für mein Promotionsprojekt einer Monografie über den Mediziner Viktor von Weizsäcker. Das Thema der Dissertation lautete: ›Das pathosophische Denken Viktor von Weizsäckers. Ein Beitrag der medizinischen Anthropologie zu einer anthropologisch fundierten Pädagogik‹. Mit Weizsäckers ›Einführung des Subjekts in die Medizin‹ eröffnet er einen neuen Zugang zum Wesen des (kranken) Menschen. Krankheit, Kranksein und Krankwerden sind Organon für ein Fragen nach dem Menschen, das erkennen lässt: »Jede Krankheit (ist) moralisch, jede Physiologie theologisch, jede Anatomie mythisch«, aber auch »jede Schuld (ist) mechanisch, jede Angst chemisch, jeder Hass und jede Liebe energetisch« (Dreher, 1974, S. 14). Das waren Sichtweisen aus einem human- und naturwissenschaftlichen Feld, die mich aufhorchen ließen. Hier zeichnete sich eine neue Anthropologie ab, ein genetisch-dynamisches Gesamtbild des Menschen, das die Konstellation der Mit- und Umwelt in den Begriff Mensch mit einbezog. – Ich muss aber auch gestehen, dass es mich, als ›Nicht-Mediziner‹, großer Anstrengungen bedurfte, um mich in dieser Welt der psychosomatischen Medizin zurechtzufinden. Ich lernte vieles kennen, ein tieferes Er-kennen hat sich mir erst später, auch durch die Begegnung mit Fragen der Heilpädagogik, erschlossen. Was sich akkumulierte, waren Bausteine jener ›order‹, von der Jaworski spricht.

Gestaltkreis

Insbesondere Weizsäckers Arbeit ›Der Gestaltkreis. Über die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen‹ hat mein Denken hin auf systemtheoretische Impulse der 80er und 90er Jahre tiefgreifend beeinflusst. Dazu kam die Thematik der ›Leiblichkeit‹ bei Maurice Merleau-Ponty und den Ärzten Herbert Plügge und Alfred Nitschke. Die Namen dieser Ärzte sind heute wenigen bekannt, damals waren diese Persönlichkeiten für mich als Studenten wegweisend.

Leibhaftig

Deren Geist verbirgt sich wie verdichtet im letzten Satz, mit dem ich meine Dissertation abschloss: »Will die Pädagogik nicht – wie so oft – hinter ihrer Zeit ›herhinken‹, dann muss sie die Chance ergreifen, welche ihr in der Erfahrung der Inkarnation des Logos des Menschen und in der Spiritualisierung des Leiblichen angeboten wird, die Chance, es wirklich mit dem ›leibhaftigen‹ Menschen zu tun zu haben. Aber auch hier muss eine verwandelte oder eine sich eben wandelnde Pädagogik sein« (Dreher, 1974, S. 228). – ›Leibhaftig‹ könnte auch heute ein Terminus sein, den zu reflektieren Einsichten eröffnet: ›Leib-haftig‹ als ein ›sinnenhaftes‹ Wahrnehmen können eines Gegenüber, aber insbesondere auch als jenes ›leib-haftende‹ Element, jenes ›Leib-sein‹, das sich nie überspringen lässt und ›durch das hindurch – à travers‹, wie Merleau-Ponty es fasst der ›Geist‹ sich bildet. Wenn ich an jenes ›geistige Erarbeiten‹ damals denke, dann liegen dort die Keime, die später in der Begegnung mit Aron Ronald Bodenheimer und dem Werk ›Elemente der Beziehung‹ ein erweitertes Verstehen des ›Humanum‹ erwachsen ließen.

Erziehung als Therapie

Dem Übergang von der ausführlichen monografischen Darstellung der Arbeit von Weizsäckers hin auf ihre Bedeutung für eine anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik, konnte ich mich damals nur rudimentär nähern, da mir der theoretische Zugang zur sozialen Dimension des krank oder beeinträchtigt menschlichen Seins zwar möglich war, nicht aber eine persönliche Teilnahme an einem entsprechenden Erfahrungsfeld.

Georg Picht

Theoriebezogen diente der Beitrag Georg Pichts mit dem Titel »Erziehung als Therapie der Gesellschaft«. Wir lesen dort: »Von Menschlichkeit kann nur dort gesprochen werden, wo in der Partnerschaft der Starken und Schwachen, der Gesunden und Kranken, der Gerechten und Ungerechten, der Glaubenden und Ungläubigen jeder begreift, dass er ohne den Anderen nicht zu bestehen vermag, wo jeder dem Anderen seine Würde zuweist, und daraus die Freiheit aller erwachsen kann. Der mühsame Weg zu solchen Möglichkeiten ist schon als bloßer Weg Therapie der Gesellschaft« (Dreher, 1974, 227).

Brüche in Ökonomie, Gesellschaft und Kultur

Was Picht damit meinte, sollte mir erst später vor Augen treten, als mich der Weg in ›Heilpädagogische Felder‹ führte, sich mir dort die Frage nach der Partnerschaft von Starken und Schwachen aufdrängte und mit Klaus Dörner (s. u.) deren Fortführung bis in unsere Gegenwart hinein geht und die bedrohlichen Brüche in Ökonomie, Gesellschaft und Kultur wahrnehmen lässt. Vielleicht ahnte ich, dass etwas Altes zerbrechen wird und ein erst noch herauszubildendes Neues sich ankündigt. Es war wie eine Vorbereitung auf etwas, was werden wollte und was ich heute als ›Projekt Inklusion‹ benennen möchte.

Geistigbehindertenpädagogik

Wie bin ich nach Köln gekommen? Nach meinem Studium haben mich die Beziehungen meines Doktorvaters Otto Friedrich Bollnow nach Japan und u. a. mein Interesse für den Buddhismus in dieses Land geführt. Von 1971 bis 1975 war ich an der privaten Reitaku Universität in der Präfektur Chiba als Lektor für Deutsch und deutsche Kultur tätig. – Im April 1974 traf ich in Tokyo eine Exkursionsgruppe von SonderpädagogInnen aus Reutlingen und Köln, geleitet von meinem zehn Jahre älteren und früheren Tübinger Studienkollegen Theodor Hofmann. Mit der Erzählung, wie ich im Januar 1974 ›zu-fällig‹ bei meinem Besuch in der Asahide Gakuen, einer Anfang der 1970er gegründeten Schule und Werkstatt für Geistigbehinderte, von dieser Besuchergruppe erfuhr, ließe sich ein weiteres Element jener schon genannten ›order‹ sichtbar machen.

Hofmann hatte einen Ruf für das neu zu etablierende Fachgebiet Geistigbehindertenpädagogik an der Pädgogischen Hochschule Rheinland, Abteilung für Heilpädagogik, nach Köln erhalten. Er war dabei, ein Team für seine Arbeit in Köln zusammenzustellen, was u. a. der Grund gewesen sein mag, dass er mich bei unserer Begegnung fragte, ob ich mir eine Mitarbeit beim Aufbau der Fachrichtung vorstellen könnte. Die Konsequenz war: Zu Beginn des Sommersemesters 1975 stand ich als Akademischer Rat in Köln im Hörsaal 1 der Abteilung für Heilpädagogik der PH Rheinland vor einer Mannschaft von 80 StudentInnen. Die meisten waren Aufbaustudierende und somit in meinem Alter, einige waren sogar älter. »Was wollen sie eigentlich von mir?« war damals meine erste Frage, wohl eher aus ›Verlegenheit‹. Da riefen alle wie im Chor: »Einen Schein!« Das war ernüchternd und entlastend zugleich. Ich denke daran mit Schmunzeln und mit großer Beschwernis zugleich zurück. Ich war damals 35 Jahre alt. Ich hatte zwar ein zweijähriges Studium zum Volksschullehrer in Stuttgart abgeschlossen, eine zweijährige Lehrerphase an einer dreiklassigen Dorfschule erfahren und mein Promotionsstudium in Tübingen absolviert, ich war vier Jahre im Ausland gewesen, aber Hochschulerfahrung für und aus einem heilpädagogischen Fachgebiet hatte ich nicht, geschweige denn die Theorie- und Praxisbasis eines Heinz Bach, Ulrich Bleidick oder Otto Speck, um nur diese drei zu nennen, die damals schon ausgewiesene Experten im noch jungen Lehrbereich waren und in deren Werke ich mich erst einzuarbeiten hatte.

conditio humana

Was hat mich damals ›gerettet‹ und während meiner über dreißigjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit geleitet? Das war einmal das Vertrauen von Theodor Hofmann darin, dass ein ›Allgemeinpädagoge‹ komplementär mit einem Sonderpädagogen zusammen grundlegende Fragen stellen und eine gemeinsame Aufbauarbeit beginnen können – was andere vielleicht für leichtfertig oder gar unverantwortlich hielten. Zum anderen waren es unsere Lehrer aus dem Tübinger Studium, die uns angeregt hatten, mit offenem Denken sich der ›conditio humana‹ zu nähern. Dies aber war gefordert in Anbetracht dessen, was mit ›geistigbehindert‹ gemeint sein könnte und welches Verständnis gegenüber diesem ›Phänomen‹ aus wissenschaftlicher Sicht abverlangt würde. (1958 war die ›Elternvereinigung Lebenshilfe für das geistige behinderte Kind‹ gegründet worden, mit dem Ziel einer Reform der Behindertenpädagogik und der Etablierung von Heilpädagogischen Kindergärten, Tageseinrichtungen und Beschützenden Werkstätten. 1968 Umbenennung in »Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V.« und seit 1995 »Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.«).

geistigbehindert

Nicht nur ›für einen Schein‹ und auch nicht ›zum Schein‹ habe ich im ersten Semester mit dem Thema ›Leiblichkeit‹ begonnen, anknüpfend an die Forschungen von Maurice Merleau-Ponty, Frederik J. J. Buytendijk, Herbert Plügge und Alfred Nitschke. Wenn ich meinen Artikel zu Theodor Hofmann ›Beiträge zur Geistigbehindertenpädagogik‹ (1969) anschaue – betitelt hatte ich ihn mit »Überlegungen im Vorfeld einer sonderpädagogischen Theoriebildung der Erziehung schwer geistigbehinderter Menschen« – dann bemerke ich, dass in ihm geistige Spuren der sogenannten anthropologischen Wende hervortreten. Das ›Phänomen der Leiblichkeit‹ ist ein allgemein menschliches – und die Studenten waren neugierig, so etwas kennenzulernen, aber vielleicht auch provoziert und zugleich verunsicherter durch eine Sichtweise, in der sich die Begegnung mit beeinträchtigten Menschen so verdichtet: »Es müsste immer wieder deutlich gemacht werden, wie die ›körperliche‹ Leistung mit dem situationellen Gerichtetsein des Menschen in einem Gestaltkreis verknüpft ist. Ebenso dass alles Körperliche eine geistige Struktur hat und dass alles Leibliche von einer Materialität durchdrungen ist. Wenn dies geschieht, dann kann ein schwer geistigbehinderter Mensch nicht als ›Stein‹ oder als ›massa carnis‹ bezeichnet werden, der in seiner Körperlichkeit auf den Zustand eines leblosen Objektes reduziert wäre. Vielleicht würden sich uns die Augen dafür öffnen, dass der schwerbehinderte Mensch, so wie jeder Mensch, ›transparent‹ werden möchte, dass er draußen sein möchte bei den Anderen, bei den Dingen, und damit ringt, seinen ›Körper‹ in die ›Medialität des Leiblichen‹ zu verwandeln und zugleich dieser Medialität durch seinen Körper ›Halt‹ zu geben. Vielleicht ist ihm dies in den sogenannten ›Stereotypien‹ oder in dem von uns als ›dranghaftes Hantieren‹ interpretierten Verhalten gelungen. Deshalb hält er eventuell daran fest. Dann wäre es die erste Aufgabe des Erziehers, dieses Verhalten zu akzeptieren, es als sinnvoll und als eine vom Behinderten aus gelungene Verwandlung zu erkennen und doch zugleich den Erziehungsauftrag darin zu sehen, Helfer zu neuen Verwandlungen zu werden«. Und als übergreifendes Fazit schließt der Text wie folgt ab: »Die Anerkenntnis, dass der Ankerpunkt des Geistigen im Leiblichen liegt, könnte Leitfaden für eine Neuorientierung sein. Vielleicht ließe sich aufweisen, dass eine sonderpädagogische Theorie der Erziehung schwer geistigbehinderter Menschen nur von einem Philosophie und Physiologie des Leibes umfassenden Ansatz zu leisten ist« (Dreher, 1996, S. 17ff.). Auf den Menschen so zu schauen, würde eine reduzierende Sicht wie die folgende überhöhen können: »Frühkindliche Erziehung ist nichts anderes als eine optimale Abfolge von Sinnesreizen (…) die dem Kind von der Geburt an zuteilwerden müssen« (Dreher, 1996, S. 11).

Hier liegen ›Denk- und Wahrnehmungsräume eines Allgemeinen‹, aus denen heraus ich in die Heilpädagogik hinein Zugang suchte. Zugleich wollte ich aber auch spezielle Erfahrungen mit beeinträchtigten Menschen rückbeziehen auf dieses Allgemeine. Dies versuchte ich in einer wissenschaftlichen Institution, die ziemlich klare Vorstellungen über die Aufgaben in Lehre und Forschung vorgab. Damals waren mir Denkimpulse, wie z. B. die, die ich später bei Peter Senge und Kollegen in Presence (2004) fand, noch nicht oder nur schwach zugänglich. Dort wird gefragt, ob nicht Wissenschaft ein unvollendetes Projekt ist, ein Prototyp mit enormer Kraft aber auch mit bedenklichen Begrenzungen? Den Limits von Wissenschaft wird dort die Perspektive gegenübergestellt: »Connectedness ist he defining feature of the new worldview« (Senge et al., 2004, S. 194).

Hochschulbetrieb

Die ersten Jahre der Tätigkeit in der Fachrichtung in Köln waren nicht gekennzeichnet durch etwas Neues, sondern vom Bemühen getragen, einen Zugang zu bisher ›Versteckte‹ zu finden. Insbesondere der Personenkreis der von ›schwerbehindert‹ genannten zog das Interesse auf sich.

An dieser Stelle ist für mich der Hinweis wichtig, dass an der Studienstätte Köln über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg überwältigende Zahlen von Lehramts- und Diplomstudierenden der Heil- respektive Sonderpädagogik zu bewältigen waren, die ›Forschung‹ nur marginal möglich machten und die in der ›Lehre‹ alle personellen Kapazitäten – sowohl quantitativ als auch subjektiv erlebt – im wahren Wortsinne ›erschöpften‹ im doppelten Sinne: Wir waren eine kleine Gruppe von WissenschaftlerInnen und wir wurden, neben den Lehraufgaben, ziemlich ›ausgepowert‹ durch Korrekturen und Prüfungen.

Dennoch begann Ende der 1970er Jahre unser Kollege Karl-Ernst Ackermann seine Fühler auszustrecken und organisierte eine erste Studienreise zu Ludwig Otto Roser nach Florenz.

Welche eigenen Interessenschwerpunkte waren besonders relevant?

Pädagogik unsteter Erziehungsformen

Vielleicht war es die ›Sehnsucht nach dem Meer (Mehr)‹ – die Antoine des Saint-Exupéry beschreibt –, die mich, nach zwei Jahren Schule halten, 1964 an die Universität Tübingen zog, um Fragen weiter nachzugehen, die sich mir während meines zweijährigen Studiums am Pädagogischen Institut in Stuttgart (1960–62) aufgedrängt und während der schulpraktischen Zeit intensiviert hatten. Insbesondere Impulse von Otto Friedrich Bollnow zum Thema ›Existenzphilosophie und Pädagogik‹ bewegten mich. Eben erst hatte Bollnow diesen Ansatz publiziert, der mich als jungen Studierenden besonders ansprach: »Es geht allgemein darum, die klassische Pädagogik der stetigen Erziehungsvorgänge durch eine entsprechende Pädagogik unstetiger Formen zu erweitern« (Bollnow, 1959, S. 20).

Geisteswissenschaftliche Orientierung

So ist meine persönliche Suche aus geisteswissenschaftlichen Denkpositionen erwachsen und genährt worden. Sie bestimmen mich bis heute. Empirisches Forschen, auch die empirische Wende in der Erziehungswissenschaft, ist mir immer ein Stück fremd geblieben. Vielleicht liegt es an meinem persönlichen leidenschaftlichen Naturell, mich mit allem, Menschlichem und Umweltbezogenen, in ganz subjektiver Weise zu ›beziehen‹, das sich der Nachprüfbarkeit oder Wiederholbarkeit verwehrt.

Anerkennung als Mensch

Die Schwerpunkte meines Interesses haben viele ihrer Wurzeln in meinem universitären Studium. Inhaltlich lassen sie sich an den Themen der Publikationen zwischen 1979 und 2000 ablesen und sie bewegen sich über zwei Jahrzehnte hinweg um die Frage der »Anerkennung des Geistigbehinderten als Menschen«, wie ich einen Artikel 1979 betitelt habe.

Anthropozän

Diese Frage hat mich nicht nur während jener drei Jahrzehnte aktiver Hochschultätigkeit begleitet, sie wird immer wieder Anlass zur Besinnung, wie zum Beispiel in dem Beitrag, den ich 2014 »Inklusion und Humanität« überschrieben habe. Auch die jetzt vorliegende Reflexion auf mein eigenes Leben stellt die Frage nach dem Menschsein in den weiteren Kontext ›Anthropozän als Menschenzeit‹, das heißt, der Bewusstwerdung unserer Beteiligung an dem, was um uns alle herum geschieht.

Denkspuren

Ich nenne nur Stichworte, die andeuten wollen, welche Phänomene thematisiert wurden und in welcher Weise sie mein Tun geprägt haben. Gesammelt sind sie in der Publikation Denkspuren. Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung. Basis einer integralen Pädagogik, als erstem Band der Reihe ›Inklusive Bildung für alle (IEFA)‹, der 1996 erschien. Insgesamt sind in dieser Reihe acht Publikationen erschienen.

Inhaltlich lassen sich bestimmte Phänomene herauslösen, wie:

Leiblichkeit

Die Leiblichkeit des Menschen

Provoziert durch tradierte Defizitdefinitionen Behinderter, sensibilisiert durch Weizsäckers Einführung des Subjekts in die Medizin und konfrontiert durch Plügge mit den Gegebenheiten ›Körper, Leib und Existenz‹ als ›Merkmale‹ der Seinsweise des Menschen führte zu ersten Bemühungen, Erziehung (schwer)geistigbehinderter Menschen von einem Philosophie und Physiologie des Leibes umfassenden Ansatz her zu verstehen lernen.

Basale Pädagogik

Basale Pädagogik

Ausgehend von Feusers Hinweis, dass der ›Gegenstand‹ eines sonderpädagogischen Handelns nicht der von uns behindert genannte Mensch ›an sich‹ ist, sondern dessen Prozess der Auseinandersetzung und Aneignung von Welt, zu dem ich als Pädagoge direkt dazu gehöre, und in dem ich mich herausgefordert erfahre, mich zu verhalten, versuchte ich zu fokussieren, dass es um einen individuell dialogischen Werde Prozess geht, der mich ebenfalls betrifft, der uns beide umfasst. So richtet sich ›basale Pädagogik‹ einmal auf die Aneignungsprozesse des behinderten Menschen, wobei Erziehungs- und Bildungsunfähigkeit grundsätzlich ausgeschlossen werden, und sie wendet sich gleichermaßen an den Pädagogen, für den die Selbsterziehung als Erziehung des Selbst – und das heißt auch Befreiung von eigener Entfremdung – zur basalen Aufgabe wird (Dreher, 1996, S. 55f.). – Heute sehe ich u. a. darin Vorzeichen für eine Annäherung an Inklusion, deren Konkretion, wie im U-Prozess erfahrbar, ich damals nur ahnte.

Anthropogenese

Anthropogenetisches Modell und Kommunikative Kompetenz

Anthropologische Fragestellungen nach dem ›Wesen‹ des Menschen, wie sie Giel in der »Philosophie als Anthropologie« und Bollnow in der Anthropologischen Betrachtungsweise in der Pädagogik zum Ausdruck brachten, stehen heute weniger im wissenschaftlichen Diskurs. Die ›Wesens‹-Frage wird als Ausschnitte oder Perspektiven der Frage des Menschen nach sich selbst durch die Verwissenschaftlichung großer Bereiche unseres Lebens vergleichgültigt. Die Wesensfrage »wird aufgehoben in der wissenschaftlichen Einstellung des Als-ob: man fragt zwar immer nach dem Ganzen der Welt, als ob man es erkennen könnte, aber man weiß doch zugleich, dass dies unmöglich ist« (Dreher, 1996, S. 58). Ein weiteres Charakteristikum ist die Kluft, die zwischen ›natürlicher Weltsicht‹ und ›wissenschaftlicher Weltsicht‹ entsteht. Anthropogenetisch fragen lehnt sich an den Mediziner Alfred Auersperg an, der von der Prämisse ausgeht, »dass Leben primär Erleben ist und dass die menschliche Welt ursprünglich als kommunikative Ordnung zu verstehen sei. Er verweist dabei auf Bubers Theologie des ›Zwischen‹, auf Heideggers ›Mitdasein in gemeinsamer Mitwelt‹ und auf Buytendijks ›Phänomenologie der Begegnung‹, in welcher der Mensch ›im erlebten Anderen das unsere Mitwelt zentrierende und strukturierende personale Prinzip‹ erfährt und erkennt« (Dreher, 1996, S. 62).

›Anthropogenetisch‹ ist ein Sprachgebrauch, – der natürlich ›genetisch‹ nicht im Sinne von ›vererbt‹ versteht –, der das Menschsein, der den Anthropos versteht aus den Entwicklungs- und Werde-Impulsen des Zwischenmenschlichen, also aus einer durch personale Beziehungen entstehenden Ordnung, aus einer Wir-Ordnung – in der wir uns immer schon vorfinden. Von diesen ›Ordnungen‹ lässt sich dann ›kognitiv absteigend abstrahieren‹ – Auersperg spricht vom ›absteigenden Abstraktionsmodus‹ –, wodurch das unmittelbar Erlebte eingeschränkt wird, im Extremfall soweit reduziert ist, dass es ›messend‹ feststellbar wird. Was hier dann festgestellt wird (z. B. Reduktion auf Sensorisches und Motorisches; Wahrnehmung als kleinster Nenner der Austauschprozesse zwischen Individuum und Umwelt) ist nicht ausreichender Grund des Erfahrenen. Beispielhaft habe ich versucht, dies an Fröhlichs »Somatischem Dialog« und Johannes Schumacher »Schwerstbehinderte Menschen verstehen lernen« aufzuzeigen. Die Bedeutung für die Erziehung, ohne sie jetzt hier herleiten zu können, wird in einem Zitat gedrängt ausgedrückt: Erziehung »… erfordert für den Erzieher ein neues Selbstverstehen, für die Sonderpädagogik die Infragestellung ihres Sonderstatus, für die Disziplin (Geistigbehindertenpädagogik) als Wissenschaft einen Wissenschaftler, der einem vielfältigen Erleben zugänglich ist und sich auf dieses einlässt, um die Vielschichtigkeit des Menschen durch ein neues Bewusstsein, das ich mit Jean Gebser als das integrale bezeichnen möchte, als Ganzes wahrzunehmen und wahren zu können« (Dreher, 1996, S. 66).

Innenwelt

Innenwelt

Elemente der Beziehung

Eine analoge Begegnung zum Verständnis des Menschen, wie sie sich mir in meinem Studium durch Auersperg aufdrängte, ist mir erneut in den 1980er Jahren durch das Kennenlernen von Aron Ronald Bodenheimer zuteil geworden. Bodenheimer, als Psychiater selbst mit beeinträchtigten Menschen konfrontiert, thematisiert, »… dass wir in der Begegnung mit Geschädigten oder von Behinderung bedrohten Menschen nicht das Anliegen der uns Begegnenden adäquat begreifen« (Dreher, 1996, S. 81). Durch Bodenheimers Werk Elemente der Beziehung öffnete sich uns in Köln im wahren Wortsinn ein neuer Zu-Gang zum Verständnis der ›Welt als kommunikativer Ordnung‹, der dadurch erweitert wurde, dass Bodenheimer uns noch vertiefter dahin führte zu verstehen: »›Sinne‹, gedacht als Pforten, durch die etwas hineinkommt oder heraustritt, helfen uns niemals das Wesen der Beziehung angemessen zu verstehen, und sie schaden uns gar, wenn sie Beziehungs-störungen als Sinnes-störungen vorgeben« (Dreher, 1996, S. 85).

Barbara Fornefeld hat dann Ronald Bodenheimers fundierende und transformierende Gedanken aus Elemente der Beziehung in die Fragestellungen des Umgangs mit ›Schwerbehinderten‹ hineingetragen. Ursula Stinkes hat ihrerseits analog phänomenologische Impulse mit der Frage nach dem ›geistigbehinderten‹ Kind verknüpft.

integral

Wir begannen zu spüren, dass sich uns immer intensiver eine, die Dominanz des mental-rationalen Bewusstseins überdeterminierende, neue Form der Bewusstwerdung öffnete, die Jean Gebser die ›integrale‹ nennt und die er aus seinem Tiefblick heraus so fasst:

»Selbständige Sphären sind im Menschen verschlungen: ›die Welt des Geistes und der Materie, des Lebens und der Seele …, die sphärische Durchdrungenheit des Geistes mit Materiellem, des Leibes mit Geist, ist für alle Gelegenheiten des menschlichen Lebens eine Urgegebenheit‹« (Gebser, 1978, III S. 597f.). Viktor von Weizsäcker hat diesen Zusammenhang fast poetisch in ein Bild gefasst: »Wie eine Möwe ist er zwischen den Elementen, bald in die Lüfte steigend, bald ins Wasser tauchend, eigentlich zwischen beiden nur den Spiegel streifend. So ist der Mensch zwischen Fleisch und Geist, durch beide in keinem« (Dreher, 1974, S. 69).

AKILAB

In die Aktualität des Geschehens jener Jahre gehört das ›Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne‹, das wir 1988 – zum Jahr des 600sten Jubiläums der Universität zu Köln – vor der Heilpädagogischen Fakultät aufgebaut hatten, als auch die etwas späteren interuniversitären Ringvorlesungen des Arbeitskreises Integrative LehrerInnenausbildung (AKILAB) über vier Jahre hinweg, sowie der Beitrag »Integrative Grundschule« im Taschenbuch der Grundschule von Becher und Bennack.

Inklusive Erziehung für Alle (IEFA)

In der Reihe IEFA sind unter anderem erschienen die Dissertationen von Spiridon Soulis, Sung-Ae Kim, Hermann Josef Spicher, Lefkothea Kartasidou und Rudolf Forster.

Ritterburgen und Ritterrüstungen

Ich habe allerdings früh bemerkt, dass ich dieses mich bewegen müssen im sonderpädagogischen Feld, so empfand, als würde ich mehr und mehr, um es in einem Bild auszudrücken, in eine Ritterrüstung gesteckt. Ich konnte mich zwar darin bewegen, aber der ›Panzer‹ ließ es nicht zu, an der Dynamik der Allgemeinen Pädagogik teilzunehmen. Die Rüstung trug das Wappen der Burg Geistigbehindertenpädagogik, die Burg selbst gehörte zum ›Herrschaftsgebiet Heil- oder Sonderpädagogik‹. Die Ritter lebten auf je ihre Weise. Ab und zu trafen sie sich zu Auseinandersetzungen, wenn Terrains abzustecken oder neu zu gewinnen waren oder auch zu Festlichkeiten. Die Konferenz der Lehrenden der Geistigbehindertenpädagogik ist so ein Anlass, sich zu treffen. Mein Kollege Hofmann nannte sie in ihren Anfangsjahren eine ›Brautschau‹, wo mögliche MitarbeiterInnen oder MitstreiterInnen ›rekrutiert‹ werden konnten. Da glänzten dann die Rüstungen – besonders der Knappen – und die Burgfräulein hatten sich herausgeputzt. Auch heute haben solche Treffen dieses Flair: Es wird ›stolziert‹ – außer dem open space für DoktorandInnen, in dem ›Neues‹ ansatzweise aufscheint –, und was vorgestellt wird, lässt sich zumeist in bereits publizierten Dokumenten besser vorab schon nachlesen.

Definitionsmacht

Solche Szenarien tragen allgemein wissenschaftstypische und sozio-kulturelle Züge: Wo gedacht wird, wird mit Kategorien aus ›Definitions-Burgen‹ gearbeitet. Sie lassen Räume abstecken, Ziele formulieren, bringen Handlungsanweisungen hervor und – Rüstungen gleich – schützen sie nach außen. Ein Mensch ›hat‹ dann eine geistige Behinderung, als deren Ursache zum Beispiel eine Hirnschädigung unbekannter Genese ausgemacht wird.

ERASMUS

In die Zeit der 1980er Jahre fällt die internationale wissenschaftliche Beziehungsaufnahme durch studentische Austauschprogramme, schwerpunktmäßig unter dem Projekt ERASMUS und unterstützt seitens der Europäischen Union. Verträge mit den Universitäten Bologna, Malaga, Ioannina, der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz und der Hochschule Arnheim/Nijmegen bewirkten einen regen Studierendenaustausch zum Thema Integration.

Cuomo

Interessant an diesem Austausch ist, dass er etwas vom ›Leben in Ritterrüstungen‹ sichtbar werden ließ. Ein Beispiel: In Italien hatte mit der Psychiatriereform Anfang der 1970er Jahre (Franco Basaglia) ein zwar radikaler, aber eben auch reformierender Anstoß der Neubestimmung psychiatrisch Kranker Raum geschaffen, gefolgt von schulischer Umgestaltung. Als Nicola Cuomo Anfang der 1980er Jahre nach Köln kam zu Seminaren, Vorlesungen und Praxisbesuchen, zu einer Zeit, in der gerade die Schule für Geistigbehinderte ›aufzublühen‹ begann, bewirkte seine Sichtweise Kopfschütteln. Er musste sich vorkommen wie ein Robin Hood, der sich einer Phalanx der ›Ritterschaft (geistige) Behinderung‹ konfrontiert sah. Viele Studierenden fühlten sich von Cuomo angesprochen und absolvierten ein oder zwei Studiensemester in Bologna. Aus dem Projekt Rom mit dem Thema ›Pädagogik und Menschen mit Down Syndrom‹ erwuchs eine analoge Zusammenarbeit mit Miguel Melero und der Universität Malaga. Aber es blieb bei solchen Einzelinitiativen, sowohl seitens der Lehrenden als auch Studierenden.

Poiein

Das Bild von der ›Rüstung geistiger Behinderung‹ durchzieht mein berufliches Arbeitsfeld wie ein roter Faden, manchmal deutlicher sichtbar, dann wieder nur indirekt eingebunden in allgemeinere Fragestellungen. In zwei Beiträgen versuchte ich andere Rüstungen anzulegen, konkret, Ansatzpunkte zu finden, um die seit Langem Wissenschaft und Praxis begleitende defizitäre Sichtweise ›Geistigbehinderter‹ zu überwinden. Bildhaft gesprochen: Ich versuchte die Ritterrüstung abzulegen, um sie durch das Bild der Raupe und des Schmetterlings abzulösen. In dem zur Raupe gehörenden Kokon erscheint zwar wieder eine ›Umhüllung‹, aber diesmal eine, aus der ›Gewandeltes‹ ans Tageslicht drängte.

In dem Beitrag »Vom Menschen mit geistiger Behinderung zum Menschen mit besonderen Erziehungsbedürfnissen« (1998) gewinnt die ›Erziehungsbedürftigkeit‹ neue Aufmerksamkeit – wie sie sich aus den anthropologischen Grundfragen schon ein halbes Jahrhundert zuvor aufgedrängt hatte: Der Mensch ist erziehungsbedürftig und erziehungsfähig. Er selbst hat etwas zum Erziehungsprozess beizutragen. Spiridon Soulis durch den Begriff ›Poiein‹, als kulturschöpferischen Weg des Menschen mit schwerster Behinderung herausgearbeitet.

ohne special needs

Diesem Schritt folgte ein weiterer, noch radikaler betitelter Beitrag: »Eine Gesellschaft für alle Menschen – ohne besondere Bedürfnisse« (2000). Denn: »Das letztendliche Ziel der Behindertenbewegung ist eine Gesellschaft für alle Menschen, ohne ›besonderen Bedürfnisse‹« (Dreher, 2000, S. 56), so die Forderung des Europäischen Behindertenforums, einer Vereinigung Betroffener. Ihr Analogon findet sie in der Feststellung: Behinderte gibt es nicht. Eine Gesellschaft für alle ohne Behinderte mit besonderen Bedürfnissen braucht also eine Umkehr des Denkens und Handelns, die angesichts des Gewordenen, dem Festhalten an Gewissheiten und dem Risiko des Scheiterns provokativ sind. Aber nur auf dem Weg über gewandelte Perspektiven einer neuen Pädagogik finden wir heraus aus dem Labyrinth der defizitären Sichtweise behinderter Menschen (Dreher, 2000, S. 56).

Wenn ich diesen Rückblick an mir vorbeiziehen lasse, dann wird mir bewusster, in welchen double bind Situationen ich mich permanent bewegte. Auf der einen Seite wurde immer deutlicher, was Feuser so fasste: ›Geistigbehinderte gibt es nicht‹ – sodass allgemein- und sonderpädagogische Experten aufgefordert wurden, ihre Verantwortungen für ›inadäquat definierte Personen‹ zu verändern hatten. Auf der anderen Seite standen lang etablierte Institutionen zur Verfügung um ›eingewiesene‹ aufzunehmen.

Institution Geistigbehindertsein

Es war schwer dahin kommen, was Dietmut Niedecken forderte, dass nämlich »… Integration nicht immer wieder an der von der Institution ›Geistigbehindertsein‹ verwalteten Aggression zerschellt« (Niedecken, Behinderte, 6/99, S. 84). Es blieb klar, dass auf dem eingeschlagenen Weg weiterzusuchen war. Die einen taten dies, indem sie in der Praxis um Lösungen rangen, die anderen, indem sie das Geschehen theoretisch begreifbar machten und damit dieses Ringen von außen zu unterstützen suchten. Das Mühen um ein solches Ringen war der Begleitimpuls in das neue Jahrhundert. Nicht abschotten in und durch die »Institution ›Geistigbehindertsein‹«, sondern Neu- und Umdenken durch die Konzeption einer ›Inclusive Education‹. In mir tauchte damals der Begriff GENIUS auf, den ich jedem Menschen als zuzusprechend empfand und ich spürte tief ungewusst und unbewusst, dass die Leitlinien des Vergangenen nicht weiter gezogen werden konnten und sollten, aber wie sie ablegen, welchen anderen folgen?

Heidegger Zukunft

Ich spürte, dass etwas kommen wollte, was Heidegger Zukunft nennt, eine ›Kunft auf uns zu‹ – aber ich konnte irgendwie nicht verstehen, was von diesem Philosophen hier ausgedrückt wurde. Schließlich: Wirklich und wirkend werden ist im Hier und Jetzt nur möglich. Aber auch hier musste ich passen. War doch Gegenwart nur so etwas wie eine Durchgangsstation, aus der Vergangenheit, ›über‹ die Gegenwart, hin, auf Zukunft. Ich fühlte mich wie im Niemandsland, koordinatenlos, wie ich es später formulierte (s. u.).

Presence

Es ist meinem persönlichen Umfeld zu verdanken, dass ich zu jener Zeit C. Otto Scharmer begegnet bin und gerade noch ›rechtzeitig‹ das Gemeinschaftswerk Presence von Peter Senge und KollegInnen publiziert wurde, sodass ich in den letzten Semestern meiner aktiven Hochschulzeit noch mit Studierenden einen ersten Blick in das hier vorgestellte tun konnte. Was war faszinierend an dieser Begegnung?

sadness of separation

Vielleicht waren es die drei ›Phänomene‹ oder Begriffe, die mich besonders angesprochen haben: ›Presence‹, die Gegenwart, die Gewärtigkeit, die mich seit meiner ›Entdeckung‹ von Jean Gebsers Werk Ursprung und Gegenwart eine neue raum-zeit-freie Lebens-Qualität erahnen ließ; dann der ›human purpose‹, der Sinn (m)eines je eigenen Lebens, also die Konfrontation mit mir selbst und schließlich die ›emerging future‹ als einer Zeit-Qualität ›aus der Zukunft‹, die mir bis dahin fremd war. Ich fühlte mich ›herausgehoben‹ aus dem sich ständig Abgrenzen müssen durch einen ›Sonderstatus‹, ich spürte, dass der Wissenschaftsbetrieb nicht etwas Anonymes ist, sondern mit mir und einer tieferen Begegnung mit mir selbst zu tun hat und dass es eine Zukunft – ›auch‹ für (Geistig)Behinderte gibt –, von der ich noch nichts ahnte. Zu tief saß in mir, was die Autoren ›sadness of separation‹ nennen (Senge, 2004, S. 68). Daher verlockte mich, was so angekündigt wurde:

Presence

»Presence is an intimate look at the development of a new theory about change and learning. The book introduces the idea of ›presence‹ – a concept borrowed from the natural world that the whole is entirely present in any of its parts – to the worlds of business, education, government, and leadership. Too often, the authors found, we remain stuck in old patterns of seeing and acting. By encouraging deeper levels of learning, we create an awareness of the larger whole, leading to actions that can help to shape its evolution and our future.

This astonishing and completely original work goes on to define the capabilities that underlie our ability to see, sense, and realize new possibilities – in ourselves, in our institutions and organizations, and in society itself« (Bookcover).

(Presence ermöglicht einen grundlegenden Einblick in die Entfaltung einer neuen Theorie über Wandel und Lernen. Das Buch führt in die Idee von ›Presence‹/Gegenwärtigkeit ein – einem Konzept, das der natürlichen Welt entnommen ist und besagt, dass das Ganze in all seinen Teilen präsent ist –, zutreffend für die Welt des Business, der Bildung, der Politik und der Führungskräfte. Wir bleiben, so die AutorInnen, zu oft in alten Mustern des Sehens und Tuns gefangen. Indem zu tiefere Ebenen des Lernens ermutig wird, wirken wir mit an der Aufmerksamkeit für das größere Ganze, was zu einem Tun führt, das beitragen kann, der Evolution des Ganzen Konturen zu geben und unserer Zukunft.

Dieses erstaunliche und durch und durch originelle Werk zielt darauf, die Fähigkeiten zu definieren, die unserem Sehen, Fühlen und neue Möglichkeiten zu realisieren zugrunde liegen – und dies bezogen auf uns selbst, auf unsere Institutionen und Organisationen und auf die Gesellschaft selbst) (Text im Buchcover).

Aus der Idee, dass das Ganze in all seinen Teilen präsent ist, entsprang eine Ermutigung, nachzufragen, inwiefern sich in der Situation des ›Sonder…‹ ein Ganzes widerspiegelt, das selbst durch ›separation‹ charakterisiert ist. Könnte diese ›Sondersituation‹ überwunden werden im Durchgang durch diese verschiedenen Ebenen – vom Individuum bis zur Gesellschaft im Ganzen – um dahin zu finden, was Jaworski dann später nannte ›separation without separateness‹? (Senge et al., 2004, S. 195)

Theorie U

Mit Presence begegnete mir zum ersten Mal explizit die ›Theorie U‹. Persönlich habe ich Otto Scharmer schon um die Wende zum 21. Jahrhundert kennengelernt und erfahren, dass er sich intensiv mit der Ausarbeitung dieser Idee befasste.

IFO 2005

2005 fand die 19. Jahrestagung der IntegrationsforscherInnnen unter dem Thema ›Auf dem Weg in eine inklusive Bildungslandschaft‹ in Köln (IFO 2005) statt. Jürgen Münch hält im Vorwort des Tagungsbandes fest:

Inklusion

»›Inclusion is about society‹ (Peter Miller). Intendiert ist eine offene Gesellschaft, die mit individuell, soziokulturell und ethnisch bedingter Verschiedenheit akzeptierend umgeht und gegen Diskriminierung, ökonomische bzw. soziale Ausgrenzungen und Gewalt auf demokratische, solidarische und die jeweiligen Gruppierungen beteiligende Strukturen, Kommunikationsformen und Konfliktlösestrategien hinwirkt« (Platte et al., 2006, S. 14).

Erweitert betrachtet, finden sich hier wesentliche Ansatzpunkte für Transformationsprozesse, wie sie die ›Theorie U‹ später explizit aufführt. Trotzdem war die Situation in der BRD zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer nicht geöffnet für diese Art von grundlegenden Veränderungen, wie Kersten Reich und ich in unserem Beitrag auf der IFO darstellten.

Bildungslandschaft Europa

Kersten Reich von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät und ich vom Department Heilpädagogik und Rehabilitation der Universität zu Köln thematisierten gemeinsam: »Inklusive Bildungslandschaft: ein Niemandsland – dennoch: Versuch einer Kartografie«.

»Für das ›Niemandsland‹ inklusiver Bildungsprozesse bildet die europäische Bildungslandschaft einen möglichen Bezugspunkt. Eine Untersuchung der ›European Agency for Development in Special Needs Education‹ (2003) ermöglicht, drei konzentrische Kreise über dieser europäischen Landschaft zu ziehen. Den äußeren Kreis bilden die Länder mit ›one track approach‹ bzw. einem Einheitssystem, nämlich Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Zypern, Schweden, Norwegen und Island, deren bildungspolitische Strategie und Praxis eine Integration! Inklusion fast aller Schülerinnen und Schüler in regulären Schulen anstrebt. Der mittlere Kreis umfasst die Länder Irland, Großbritannien, Frankreich, Luxemburg, Liechtenstein, Österreich, Slowenien, Slowakei, Tschechische Republik, Polen, Litauen, Estland und Finnland, die parallele Schulwirklichkeiten akzeptieren ›multi track approach‹ bzw. Kombinationssystem. Sie bieten neben den beiden Systemen Regelschule und Sonderschule vielfältige sonderpädagogische Unterstützung an. In den Ländern, die der dritte Kreis umschließt ›two track approach‹ bzw. zweigleisiges System, nämlich die Niederlande, Belgien, die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland, gibt es zwei getrennte Bildungssysteme. Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden üblicherweise in Sonderschulen oder Sonderklassen unterrichtet. Allerdings tritt für die deutsche Situation, neben dieser Zweigleisigkeit, das dreigliedrige Schulsystem der Sekundarstufe mit seiner hohen sozialen Selektion verschärfend hinzu. Es mag provokant und vielleicht ein wenig überzeichnet sein, wenn die BRD hier als ein ›inklusionspädagogisches Niemandsland‹ bezeichnet wird. Aber Fakt ist, dass die BRD zehn verschiedene Sonderschulformen für ›Besondere‹ kennt« (Platte et al., 2006, S. 81f.).

Escher Belvedere

»Mit dem Denk-Bild ›Belvedere‹ von M. C. Escher (Locher, o. J., 142ff.), ließe sich ›Das deutsche Haus des Lernens‹ – von einem distanziert wirkenden Architekten geplant, modelliert und in einer steinigen, schroffen und kargen Landschaft aufgestellt – treffend als Analogie illustrieren. Was ›objektiv‹ und ›geometrisch richtig‹ konstruiert zu sein scheint, zeigt sich beim näheren Betrachten höchst merkwürdig und widersprüchlich ausgeführt: Grund-, Haupt- und Realschule sowie die gymnasiale Oberstufe stützen sich auf das exklusive und in gewissem Sinne hermetisch abgetrennte Fundament Sonderschulpädagogik. Aber auch jene allgemein bildenden Schulformen werfen Fragen auf. Die ›Grundschultreppe‹ hinaufsteigend werden Haupt- und Realschule noch einigermaßen erreichbar. Wer aber vermag die ›gymnasiale Oberstufe‹, in Eschers Grafik durch eine Leiter dargestellt, von ›innen nach außen hochgehend‹ zu erklimmen? Und wie stabilisiert sie sich als baldachinüberwölbtes Stockwerk, liegt dieses doch recht ›verquert‹ zur darunter liegenden Etage?« (Platte, 2006, S. 83) Absorbiert von der irritierenden Konstruktion jenes Bauwerkes, das ›eine schöne Aussicht‹ verspricht – entgeht dem Blick des Betrachters leicht der schon erwähnte – im Bild unten links auf der Bank sitzende – Architekt, der das Ganze zu verantworten scheint. Plan, Modell und Umsetzung lassen, in einem Weltbild klassischer Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt verfangen, die VerANTWORTung des Architekten überhören. Ins Spiel seiner Betrachtungen versunken, kann er unbekümmert der Realität den Rücken kehren. Scheint er sich doch nicht angesprochen zu fühlen von dem, was mit seinem Konstrukt, in Wirklichkeit, passiert.

Die Praxis selbst hat sich in eben dieser separierenden Wirklichkeit behaglich und beharrend eingerichtet. Hier trifft zu, was Peter Senge in Presence so ausdrückt: »I think our culture’s dominant story is a kind of prison. It’s a story of separation – from one another, from nature, and ultimately even from ourselves. In extraordinary moments … we break out of the story. We encounter a world of being one with ourselves, others, nature, and life in a very direct way. It’s beautiful and awe-inspiring. It shifts our awareness of our world and ourselves in radical ways. It brings a great sense of hope and possibility but also a great uncertainty. It can also be hard suddenly finding ourselves outside the story that has organized our life up to that point. It’s wonderful to be free, but also terrifying …« (Senge et al., 2004, S. 221f.).

(Ich denke, dass die unsere Kultur dominierende Erzählung die über ein Gefängnis ist. Es ist eine Erzählung über Trennung – einer vom anderen, von der Natur, und letztlich auch von sich selbst. In außergewöhnlichen Momenten … treten wir aus dieser Erzählung heraus. Wir begegnen einer Welt, in der wir eins sind mit uns selbst, mit anderen, mit der Natur und kommen ganz direkt in Berührung mit dem Leben. Es ist wunderbar und Ehrfurcht gebietend. Es wandelt sich unsere Achtsamkeit auf unsere Welt und auf uns selbst in radikaler Weise. Es kommt ein Gespür von Hoffnung auf und von Möglichkeiten, aber auch das Empfinden von Ungewissheit. Es kann auch ganz schwierig werden, sich plötzlich außerhalb der Erzählung wiederzufinden, die doch unser ganzes Leben bis dahin organisiert hat. Wunderbar, frei zu sein und erschreckend zugleich.)

Dieser, in Eschers Bild versinnbildlichten, ›Erzählung‹, versuchten wir, mit dem Thema der 19. Jahrestagung der IntegrationsforscherInnen in Köln 2005, ein anderes Bild entgegen zu stellen: »Auf dem Weg in eine inklusive Bildungslandschaft«. Kersten Reich und ich hielten in unserem Beitrag fest: »Eine ›inklusive Bildungslandschaft‹ bleibt so lange ›Niemandsland‹, wie sie sich schwerpunktmäßig von den Wissenstraditionen her zu verstehen und Gegenwart und Zukunft von dorther zu gestalten sucht. Wer dieses Niemandsland betreten möchte, darf nicht zurückschauen« (Platte, 2006, S. 88).

Fazit

In sich Schauen

Provoziert durch einen globalen Impuls sind zwei Antworten möglich:

›Weiter so‹ und was eventuell neu, innovativ oder gar emergierend sein könnte, im gewohnten Stil einordnen in Gewohntes. Der terminologische Disput über ›Integration‹ und oder ›Inklusion‹ ist bis heute ›lebendig‹.

Oder:

Das Fernrohr umbiegen, nicht zurück- sondern ›in-sich-Schauen‹.

Bewegung
pro Inklusion

Wohin schauen? Worauf den Fuß setzen? Aus solchen Fragen erwuchs bei Olga Lyra, – damals Promotionsstudierende an der Universität zu Köln – und mir eine Projektidee unter dem Titel ›LehrerIn-Bildung-Kultur, BeWEGung pro Inklusion‹, die wir an Verantwortliche im Bildungsraum Schule herantragen wollten. Olga Lyra schreibt:

»Die Konfrontation mit dem Ansatz des U … entspringt dem Gedanken, seine innovative und transformierende Kraft Führungskräften aus dem Bildungsbereich zur Verfügung zu stellen … Dabei soll die Möglichkeit tief greifenden Wandels in der Pädagogik mit dem Durchlauf durch das U, und zwar mit Blick auf das Verständnis und die Umsetzung inklusiver Bildung im regionalen Bildungsbereich, erforscht werden« (Lyra, 2012, S. 92).

Das Ergebnis dieses Projektes ist 2012 erschienen in: Olga Lyra ›Führungskräfte und Gestaltungsverantwortung. Inklusive Bildungslandschaften und die Theorie U‹.

UN-Konvention
und Theory U

Ich deute es heute als eine Synchronizität zweier Ereignisse, dass einerseits Ende 2006 die Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und 2007 zur Unterzeichnung an die Weltgemeinschaft weitergereicht wurde, und andererseits 2007 die erste Auflage der ›Theory U‹ erschienen ist. Mit der UN-Konvention ist eine ›unbekannte Landschaft Inklusion‹ aus dem ›brodelnden internationalen Meer von Bildungsdiskussionen aufgetaucht‹, nicht als ›lineare Fortsetzung‹ der Diskussion um Segregation und Integration, sondern analog der Perspektive aus der ›Theorie U‹, als eine »Emerging Future«, also als ein Ereignis, das uns ahnen ließ, dass etwas in die Welt kommen möchte, was so bisher nicht da gewesen ist. Dass ein solcher Blick, sowohl in der scientific community als auch bei bildungspolitisch Verantwortlichen, nicht zwangsläufig erwachsen ist, zeigt die bis heute und immer neue Kontroverse um ›Inklusion‹.

Absencing
und Presencing

Für mich ist die UN-Konvention von 2006 einerseits jenes Ereignis, das mich ›outside the story‹ stellte, mir die Wahrnehmung gab ›to be free‹ und andererseits ist es die ›Theorie U‹, die für das Projekt Inklusion die neue Zeit-Dimension ›aus der Zukunft‹ zu erschließen ermöglichte und im Presencing ein Zeit-Feld eröffnete, durch das ein sich Herauslösen aus einem Absencing-Modus eingeleitet wurde.

prae-kategorial

Einen Aspekt des Absencing und möglichen Presencing möchte ich an dieser Stelle ›zwischenschieben‹. Mich beschäftigt die Frage, ob wir kognitiv zu einem Status Zugang finden könnten, der seitens der Experten »›vor‹ der Kategorisierung und Begriffsbildung ›behindert‹ liegt«? Ich versuche zu fragen, ob mit Beginn einer bewussten und gezielten Zuwendung zu Menschen mit Behinderungen, besonders ab Mitte des 19. Jahrhunderts, durch die Zuschreibung ›Behinderung‹ von Anfang an eine Distanz zu diesem Kreis von Menschen fixiert wurde, denn Sprache drückt nicht nur aus, sie schafft Wirklichkeit. Die Konsequenz war und ist es noch immer, dass um ›Behinderung‹ eine ›Sonderwirklichkeit‹ mit vielfältigsten Ausprägungen geschaffen wird. Inklusion weist für mich auf ein Paradox hin, das ich so ausdrücken möchte: Einerseits wird diese ›Sonderwirklichkeit‹ – auch durch Experten gestiftet und basierend auf einer Wissenschaft, die sich speziell dafür ausgebildet hat – permanent ausdifferenziert und zum anderen gilt es ebenfalls unablässig diese Wirklichkeit zu ›hinter-fragen‹, um quasi den Blick auf eine Wirklichkeit frei zu bekommen, die ›vor der Diagnose Behinderung‹ steht, beziehungsweise diese ›auflöst‹. Vielleicht klingt das wie eine ›intellektuelle Spielerei‹. Dennoch lässt mich der Gedanke nicht los, nach einer Begegnungsweise zu fragen, die ›vor‹ der Zuschreibung ansetzt, respektive aus dieser heraustritt, um durch ein noch unbekanntes Portal in dieses neue Feld des Zusammenlebens, Inklusion genannt, zu treten.

neue Wege – Kernideen

Alleine einen solchen Gedanken zuzulassen ängstigt. Aber andere teilen diese Ängste und ermutigen zugleich zu neuen Wegen: ›Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken‹ (Kurt, 2010, S. 11). Eine zukunftsfähige Wissenschaftlichkeit fragt daher: Wie gelangen wir über intellektuelle Konstrukte, Daten und empirische Befunde hinaus zu lebendigen Ideen? Zu Kernideen oder Ideenkernen, die fruchtbar sein und fruchtbar machen können?

Fragestellung

2015 ging von der Universität Halle im Rahmen der 29. IFO ein Impuls aus, sich mit Fragestellung ›Inklusion‹ unter einer irritierend anmutenden Thematik erneut zuzuwenden: »Inklusion ist die Antwort! Wie war noch einmal die Frage?« Mit diesem Tagungstitel – der, wie die Tagung selbst – nicht nur auf Zustimmung traf, wurde deutlich: Die Antwort Inklusion bedarf der Rück- und Neu-Besinnung auf die vorausgegangene Frage. Was auf den ersten Blick harmlos oder wie ein ›Scherz‹ klingt, ist brisant: Geht es doch implizit um eine Neu-Besinnung auf den respektive die, welche die Frage stellen! Vereinfacht gefragt: Ging und geht die Frage aus sonderpädagogischer und integrativer Perspektive nicht stets einher mit der, vielleicht unbewussten, Setzung, ›Du bist ein anderer‹ und wir versuchen – weil wir’s anscheinend wissen –, wie Du zu uns gehören, wie Du Dich einfügen kannst. Hier versuchte die Tagung in Halle eine Zäsur zu setzen. Ich habe versucht, in meinem Beitrag zum Tagungsband darauf expliziter einzugehen und die sich für mich daraus ergebenden Veränderungen anzudeuten (Dreher, 2016, S. 257–284).

Welche MitstreiterInnen waren besonders wichtig?

Münchner Schule

Bei meinem Beginn in Köln war es besonders die Münchner Schule um Otto Speck, mit Manfred Thalhammer und Dieter Fischer, in der ich ein analoges Denken wiederfand. – Wegweisend war auch Martin Hahn und sein Verständnis von Behinderung als ›Mehr an sozialer Abhängigkeit‹. Gleich in den ersten Jahren hat Wolfgang Jantzen mir unbekannte Sichtweisen an die Studierenden in Köln herangetragen.

In Köln war es der engagierte, offene und immer vom anderen Menschen aus als einem gleich zu wertenden und zu würdigenden Du her wirkende Kollege Theodor Hofmann, der mir Vorbild wurde. Und von all denen, denen ich begegnet bin, seien es Studierende oder MitarbeiterInnnen, bin ich geprägt worden, je auf ganz eigenwillige und eigensinnige Weise. Dies zu charakterisieren fällt mir schwer, daher nenne ich hier nur Namen, verstanden als Fingerzeige auf besondere Menschen.

Team Köln

Karl-Ernst Ackermann, Katja Seebaum, Christoph Anstötz, Heribert Combüchen, Brigitte Jacobi, Heidi Enkler, Harald Flechtner, Maria Zingsem, Barbara Crom, Birgit Dietl, Barbara Kern, Christian Bradl, Heinrich Kuipers, Christine Bach, Gabriele Kleuters, Markus Dederich, Marion Nowotny, Marion Esser, als Schulleiter Theo Eckmann, Karl Heinz Imhäuser, Frank Tolmin, Ursula Stinkes, Barbara Fornefeld, Wolfgang Lamers, Norbert Heinen, Monika Seifert, Hermann Josef Spicher, Andrea Platte, Erik Weber, Esther Brück, Anna von Borstel, Dagmar Willert, Anna Held, Jürgen Münch, Barbara Brokamp, Christine Hüttl, Desirée Gbur, Michael Ern, Gabi Kirchhoff, Barbara Boisserée, Ute Goertz, Hans-Jürgen Röhrig, Claus Hagemann, Werner Schlummer, Heike Bücheler, Stefanie Müller, Ursula Böing, Saskia Erbring, Karin Terfloth, Pia Görg, Christoph Kant, Birgit Schürgers, Susanne Irmscher, Michael Hengst, Björn Kreiß, Sandra Geisenheyner, Clemens Dunkel, Uta Wilms, Philipp und Birgid Nothdurft, Britta Klostermann, Peter Schütterle, Katrin Ilm, Oliver Dycker, Olga Lyra, Bettina Amrhein (als letzte Doktorandin), Frau Gottschalt, Frau Paffenholz, Frau Berger, Frau Zanea, Frau Sommer und Frau Adolf – und wahrscheinlich habe ich weitere wichtige Personen jetzt nicht namentlich genannt.

All diesen Menschen begegnen zu können, danke ich Theodor Hofmann. 2018 werden es 45 Jahre, dass wir uns in Tokyo – nachdem wir uns im Tübinger Studium eher flüchtig kennengelernt hatten – wiedergetroffen haben und er mich mutig und voller Vertrauensvorschuss in die Zusammenarbeit in Köln hineinholte. Hofmann war es, der einen besonderen ›Geist‹ in die Fachrichtung trug. Einerseits ist er selbst schon seit früher Kindheit in enger Gemeinschaft mit beeinträchtigten Menschen aufgewachsen. Sein Vater war pädagogischer Leiter des Tempelhof – heute: Gemeinschaft Tempelhof https://www.schloss-tempelhof.de/gemeinschaft/vision-werte/–, damals einer klassischen ›Behinderteneinrichtung‹. Andererseits drängte ihn die Idee, dass Sonderpädagogik etwas zu überwindendes sei. Hofmann war tiefgründig und humorvoll in einem. Zu meinem 50sten 1990 schrieb er:

Schon obligatorisch –

wenngleich dilettantisch –

fehlt es nicht:

mein Gedicht.

Ich dachte nach

und war verwundert:

schon ein halbes Jahrhundert

gibt’s unseren Walther Dreher.

Nun ist es soweit

mit 50 ist er zweimal gescheit.

(So sagen’s die Schwaben,

die von Gscheitsein ne Ahnung haben)

Seine stattliche Figur –

von den Sandalen bis zur Tonsur –

ist beflügelt mit hehrem Geist,

der ihn fernöstliche Weg weist:

Meditierend sich verschenken,

nicht versenken,

los sich lösen vom Profanen,

Freiheit erahnen,

sie mit Wünschen verweben,

sich allem entheben,

sich nicht mit Tand belasten,

fasten;

so kommt Walther Dreher

seiner Leiblichkeit näher.

Schnurgerade Weg zu einem – oft vermeintlichen – Ziel,

vermeidet er still.

Er durchschwebt dichte Nebel

zu noch unbekannten, sonnigen Höhn:

immer suchend, erahnend, ertastend, verstehend.

So lehrt Walther Dreher uns hoffen,

lässt jedem von uns eine Türe offen.

Und zu meinem 74. Geburtstag, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb er mir folgendes:

Lieber Herr Dreher,

Habe Geduld gegen alles Ungelöste

in deinem Herzen und versuche,

die Fragen selbst liebzuhaben

wie verschlossene Stuben und wie Bücher,

die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Forsche jetzt nicht nach Antworten,

die dir nicht gegeben werden können,

weil du sie nicht leben kannst

und es handelt sich darum,

alles zu leben.

– Lebe jetzt die Fragen –

vielleicht lebst du dann allmählich

ohne es zu merken

eines fernen Tages

in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke

Vielleicht hören sich solche Erinnerungen fast intim an. Und vielleicht rufen sie die Frage hervor: Hat das was mit Inklusion zu tun? Für mich sind sie Symbol für ›Atem-Räume‹, die Hofmann geschaffen hat, ganz unscheinbar und vielleicht sogar gar nicht gewollt, für einen dialogischen Umgang untereinander und Nähe in Gegenseitigkeit. Ich empfinde sie heute als ein bleibendes Geschenk. In der Erfahrung und dem Wissen um solche Räume liegt für mich eine Kraft, den Ausbruch aus der Höhle des platonischen Höhlengleichnisses zu ›propagieren‹ und den Aufbruch ins Ungewisse zu tun.

Erasmus-Partnerschaften

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die KooperationspartnerInnen der Europaprojekte TEMPUS, INTEGER, EUMIE – unter dem Koordinator Ewald Feyerer – und der ERASMUS-Partnerschaften und einen, der mich immer wieder angezogen und angeschoben hat, wenngleich wir die Terrains sehr unterschiedlich ›beackert‹ haben und noch immer in anderer Weise unterwegs sind: Georg Feuser. Seinen Scharfsinn, sein Engagement und seine sozio-polito-wissenschaftliche Radikalität bewundere ich und manchmal erschrickt sie mich. Ich möchte nicht verschweigen, dass Georg einer der zwei Schriftgutachter war, als ich mich 1980 auf die zweite Professur ›Geistigbehindertenpädagogik‹ in der Fakultät für Heilpädagogik der Universität zu Köln bewarb. Erstaunt hat mich, dass er mir sein Gutachten zur Einsicht in Kopie zukommen ließ. Für mich gehörten Verfahren dieser Art unter die Kategorie ›top secret‹. Dankbar bin ich ihm, dass er – obgleich ich damals nur wenig Schriftliches vorzulegen hatte und wir uns persönlich nicht kannten –, kritisch zurückhaltend eine Adäquanz für Lehr- und Forschungsaufgaben bestätigte. Aus seiner Stellungnahme heraus und in dem darin ausgedrückten Vertrauen, verbarg sich für mich ›aus der Zukunft‹ her verpflichtender Auftrag, mindestens ›mein Bestes‹ zu geben, wenn nicht noch mehr. Diesen Auftrag zu erfüllen, ist mir bis heute Ansporn für mein Denken und Tun geblieben!

Cuomo

Ein besonderes Gedenken auf dem Weg zu einer Inklusiven Pädagogik und zur ›integralen Qualität‹ unseres Bewusstwerdens, gilt Nicola Cuomo (1946–2016). Der wissenschaftliche und interkulturelle Austausch mit der Universität Bologna seit Beginn der 1980er Jahre, sowie der von Cuomo ausgehende Impuls, ›L’Emozione di Conoscere e il Desiderio di Esistere‹ – in einer gleichlautenden Assoziazone institutionalisiert, haben mich in ungewohnter Art und Weise dem näher gebracht, wie es möglich ist, das Heranwachsen eines beeinträchtigten Menschen in
(s)einem sozialen Umfeld wahrzunehmen und es zugleich wissenschaftlichem Erfassen zugänglich zu machen. Cuomo hat uns ahnen lassen, wie die Aufhebung der Polarität von Kognition und Emotion – der letztlich die Gliederung des deutschen Schulwesens folgt – Grundvoraussetzung für das Gelingen einer – wie wir damals formulierten – integrativen Pädagogik und Didaktik ist.

Emozione di cognoscere

Um die Ideen zu verbreiten und analoge Impulse international einzuholen, begründete er eine online Zeitschrift mit dem Titel L’EMOZIONE DI CONOSCERE – LA EMOCION DE CONOCER – THE EMOTION TO KNOW – EMOTTA DE ACONOASTE mit dem Untertitel ›il Desiderio di Esistere – el Deseo de Existir – the Desire to Exist – Dorinta de a Exista‹.

Pinocchio
Schmetterling

»Das Logo der Zeitschrift zeigt Pinocchio, wie er fasziniert einen Schmetterling betrachtet, der sich auf seiner Nasenspitze niedergelassen hat. Beides – Pinocchios Gesicht und der Schmetterling auf seiner Nase – möchte also Staunen und Verwunderung darstellen. Der Schmetterling steht dabei für die emotionalisierenden Bedingungen eines Lernens, das nicht monoton und geradlinig verläuft wie die Flugbahn eines Geschosses, sondern sich in Kontexten vollzieht, Loopings schlägt, sich umdreht, anhält, die Richtungen wechselt – eben wie der Flug eines Schmetterlings. Die Zeitschrift greift auf Rat und Hilfe von Fachleuten an Instituten und Universitäten rund um die Welt zurück, die schon seit Jahren im Bereich ›Emozione di Conoscere‹ (Emotionen des Lernens) und ›Desiderio di Esistere‹ (Bedürfnis zu leben) zusammenarbeiten. Die Wahl von Pinocchio als Logo ist der Geschichte der Handpuppe, die zum Kind wird, geschuldet: Pinocchio steht für Verschiedenheit und die darin enthaltenen Ressourcen; für eine Sichtweise, die in Kontexten, im Alltagsleben wie in pädagogischen Vorhaben, die Kapazitäten für Entwicklung und Lernen mit Behinderung wahrnimmt – und auch sieht, wann die Umweltbedingungen zur Behinderung werden. Die Neugier der Handpuppe, ihr Unternehmungsdrang, ihre Abenteuerlust: Hier sehen wir die Voraussetzungen für Aktivität anstelle von Passivität, für die Fähigkeit und Begierde eines Kindes, Entdeckungen zu machen, kennenzulernen und zu begreifen« (http://rivistaemozione.scedu.unibo.it/images/stories/Rivista_deutsch.pdf).

Dies sind Wahrnehmungen, die ich bei Otto Scharmer jetzt wiederfinde in dem, was er als die höchsten ›Zukunftspotenziale‹ eines Menschen anspricht.

Welche Bezüge gab es zur Praxis?

Schwere Behinderungen in der Schule

In den 1970er Jahren waren es ›Projektgruppen‹, zumeist von Studierenden initiiert, die sich in Institutionen – damals besonders in Psychiatrischen Einrichtungen – aber auch Schulen engagierten. Direkte schulbegleitende Forschungsarbeit haben wir über mehrere Jahre zum Thema ›Schwerbehinderte im pädagogischen Feld Schule für Geistigbehinderte‹ durchgeführt. Es war ein schwieriger Suchprozess und – neben der immensen Studierendenzahl, die fast ausschließlich durch ›Lehre‹ betreut werden musste –, für mich persönlich überfordernd. Bewegt denke ich an die damals intensive Zusammenarbeit mit Nicola Cuomo zurück. Bei Besuchen in Bologna konnten wir erfahren, wie Theorie und Praxis sich verknüpften. 1988 ist Cuomos Buch Handicaps ›gravi‹ a scuola – interroghiamo l’esperienza auf Deutsch erschienen, übersetzt von Jutta Schöler: Schwere Behinderungen in der Schule. Wir fragen die Erfahrung. Die italienische Fassung basiert auf Reformbestrebungen, die schon in den 70er Jahren begonnen hatten und auf grundsätzliche Veränderungen zielten. In der Einführung dieses Buches schreibt Aureliana Alberici (Schulrätin in Bologna von 1975–1983):

»Eine politische und pädagogische Strategie zur Integration behinderter Kinder in die Grundschule in Bologna.

Vier Monografien, vier Geschichten von Menschen einzeln und in der Gruppe, vier Prüfsteine pädagogischen Handelns. Renzo, Daniele, Ines und Sergio sind Kinder aus Fleisch und Blut, mittel bzw. schwer behindert (mongoloid, hirngeschädigt, autistisch). Für sie suchten wir nach einem Weg, um in der Erziehung die schulische, soziale und kulturelle Integration zu ermöglichen.

Obwohl es im Hinblick auf das Alter der Kinder, der Typologie der Behinderung und der Ebene der Eingliederung (Kindergarten und Grundschule) verschiedene Geschichten sind, belegen die vier Monografien dennoch eine Theorie der didaktischen Arbeit und eine gemeinsame Methodologie.

Diese Theorie zielt auf die Überprüfung eines Erziehungsweges zur Integration schwer behinderter Kinder, der beweisen soll, dass die Anwesenheit dieser Kinder nicht zur Senkung und zum Abbau der vom Lehrer für das Schuljahr gesetzten Ziele führt. Außerdem bietet sie die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Anwesenheit des hier im Mittelpunkt stehenden behinderten Kindes als weitere Vervollkommnung und Qualifizierung der gesamten Klassengruppe betrachtet werden kann, ob also die Integration mithilfe einer Erziehungstheorie gelingt.

Recht und seine substanzielle Umsetzung

Die Voraussetzung beinhaltet die Erkenntnis, dass eine positive kulturelle und soziale Integration des behinderten Kindes die gesamte schulische Welt betrifft, dass sie eine radikale Veränderung von Einstellungen, der Sprache, von subjektiven und objektiven Räumen, der Didaktiken einschließt und dass sie die Rahmenbedingungen für eine notwendige Reform des gesamten Schulsystems vom Kindergarten bis zur Mittelschule setzt. Dies bedeutet, die bekannten Probleme in vollem Bewusstsein und dem Willen in Angriff zu nehmen, ein per Gesetz aufgestelltes formales Recht in eine substanzielle Gelegenheit umzusetzen, die schulische Erfahrung zu verbessern und zu qualifizieren, indem man bei der Fortbildung und der beruflichen Qualifikation der Lehrer und anderer Mitarbeiter in der Schule beginnt …« (Cuomo, 1989, S. 15, Hervorh. d. A.).

Im mich Besinnen auf jene Zeit der ersten Begegnung und der folgenden Zusammenarbeit, wird mir heute erst deutlich, dass solche Samen – um ein Gleichnis zu bemühen – bei seinen Besuchen in Köln nicht auf fruchtbaren Boden fallen konnten. So absurd es klingen mag, aber hier in Nordrhein-Westfalen war gerade damit begonnen worden, herrliche Sonderschulen zu bauen, mit Schwimmbädern, Zusatzräumen zu jedem Klassenzimmer und vieles mehr. In Bologna erinnere ich mich an viele recht bescheidene Schulen, mit schmaler Ausstattung. Bei uns sollte und wollte ein anderes Teppichmuster gewoben werden, eine »Sonderanfertigung ›geistige Behinderung‹«, Cuomos rote Fäden wirkten da wie Webfehler.

Wenn ich zurückdenke, so verstehe ich im Nachhinein mein ›anthropologisches Pfade-Suchen‹ vielleicht besser als ein Bemühen, gesetzesbedingte Vorgaben zu transzendieren, die ich bis heute als schier unüberschreitbare Barrieren empfinde. So entdecke ich in dem Text (neue) Aspekte wie ›schulische, soziale und kulturelle Integration‹, ›Vervollkommnung und Qualifizierung der gesamten Klassengruppe‹, ›radikale Veränderungen von Einstellungen‹, ›notwendige Reform des gesamten Schulsystems‹, ein ›volles Bewusstsein‹ und der ›Wille‹, ›ein per Gesetz aufgestelltes formales Recht in eine substanzielle Gelegenheit umzusetzen‹, als bis heute einzulösende Elemente einer allumfassenden Transformation.

Facilitated
Communication

Ein weiteres kontroverses Praxisfeld hat sich mir durch die Begegnung mit der Facilitated Communication (FC), also der gestützten Kommunikation aufgetan. Pamela West, damals Studierende der Fachrichtung, war mit ihrer Schwester Katja Rohde in Seminare gekommen, unter anderem auch, als unsere japanischen Kollegen aus dem Rainbow-Projekt in Köln waren. Sie stützte ihre Schwester und in den Gesprächen enthüllte sich uns eine Persönlichkeit, die wir nicht ›in ihr‹ vermuteten. Die ›Gestützte Kommunikation‹ wurde in der Fakultät kontrovers behandelt. Dagmar Willert hat sich mit dieser Kommunikationsweise intensiv auseinandergesetzt. Eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen fand sich, die auf diese Weise kommunizierten: Carsten, Daniel, Tayfun, Ergyn, Christian, Ruya, Murat – neben Katja Rohde, Birger Sellin, Dietmar Zöller.

In der Fakultät wehte der FC ein rauher Wind entgegen, besonders aus der Psychologie. Ich habe damals nicht die Kraft aufbringen können, die heranwachsenden Schüler gegenüber solchen Attacken zu schützen, obwohl uns durch Bodenheimer hätte erkennbar werden können, dass FC nicht nur eine ›stützende Hilfestellung‹ anbot, sondern ihr Kern in der Anerkennung des Anderen als jemand, dem ich nicht nur ›zurufe‹ sondern ›anrufe‹, liegt. Ich müsste weiter ausholen, damit sich mitvollziehen lässt, worum es hier geht (Dreher, 1996, S. 77ff.).

IncluCity Cologne

›IncluCity Cologne – Inklusive Stadt Köln‹ ist um 2000 entstanden und wurde zu einem Ort des Sich-einmischens in politische Fragen der Stadt Köln (http://www.genius-for-all.de/INCLUCITY%20COLOGNE%20Festschrift%20Jürgen
%20Münch.pdf).

Nicht unerwähnt bleiben dürfen Grund- und Gesamtschulen in Köln, auch Gymnasien, die integrative Pädagogik praktizieren und immer offene Türen für interessierte Studierende anbieten.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen, persönlich und für das Feld?

Erkenntnissubjekt

Im Kontext der Universität im 21. Jahrhundert und deren gesellschaftlichem Beitrag zur Inklusion ist für mich die größte Herausforderung das sich wandelnde Verständnis des im Feld der Wissenschaft agierenden Erkenntnissubjektes. Meine schon erwähnten biografischen Stationen sind dabei für mich prägend geworden. Hier noch einmal einige Stationen:

Wissenschafts­verständnis

Die Auseinandersetzung mit Viktor von Weizsäcker und seinen humanmedizinischen Fragestellungen brachte die erste Möglichkeit, mich einem ›Wissenschaftsverständnis‹ in einer Weise zu nähern, wie ich es zuvor nicht kannte. Hans Lipps hatte ›Objektivität‹ als »Angemessenheit der Erkenntnis an ihren Gegenstand« bezeichnet und dies in den Kontext seines Verständnisses von ›Wirklichkeit‹ gestellt. Wirklichkeit ist für Lipps »ein Feld der Berufung«, dem gegenüber sich der Mensch verantwortlich zeigen muss. Es liegt am Menschen, was wirklich ›wirklich‹ wird.

»Verbindlichkeit der Wissenschaft besagt für Lipps nicht bloßes Wissen, nicht die Maßgeblichkeit gesicherter Erkenntnisbestände, sie bedeutet nicht ein Sich-verbergen hinter einer Anonymität, nicht ›Botmäßigkeit einer unabänderlichen Wirklichkeit‹, sondern Verbindlichkeit der Wissenschaft heißt ›Verbindlichkeit einer Handlung, deren Instanz jeder in sich selbst findet, zu deren Verantwortung er sich frei zu bekennen hat‹« (Dreher, 1974, S. 137).

Das war wie ein Paukenschlag, verunsichernd und befreiend und ermutigend zugleich!

Es sollte drei Jahrzehnte dauern, bis mich diese Erkenntnis ein- und überholte. Es war damals wie ein »Durchschweben dichter Nebel«, wie es Hofmann liebevoll formulierte, aber es motivierte »immer suchend, erahnend, ertastend, verstehend« zu bleiben.

Walter Schulz‘ Weltsicht

Von Walter Schulz habe ich ›mitgenommen‹ die Wahrnehmung jener Tatsache, dass verschiedene Welt-Sichten möglich sind und dass die ›wissenschaftliche Weltsicht‹ und die ›natürlich Weltsicht‹ jeweils anderes sichtbar machen – insbesondere aber der Gefahr ausgesetzt sind, in extremer Weise auseinanderzudriften.

contra
Verobjektivierung

Vielleicht sind solche Hintergründe durch meine ganze hochschulische Zeit erkenntnisleitend geblieben und haben dazu geführt, mich hartnäckig gegen verobjektivierende Distanz – ›wissenschaftlich abgesegnet‹, wenn die Experten nicht mehr selbst weiter wussten (in ihren Ritterrüstungen) – zu beeinträchtigten Menschen zu stellen. Ich wollte nach dem zu fragen, was uns allen von Anfang an gemeinsam ist, aber durch bereits vorgegebene Konstrukte verschüttet wurde, um dann von da aus weiter zu fragen, wie sich die Konstrukte wieder ›aufweichen‹ lassen und wie sich neue Landschaften gestalten lassen – auch zunächst ohne Kartografie. In diesem Moment taucht ein Impuls von Viktor von Weizsäcker auf, in welchem er sein Verständnis der Krankheit und des kranken Menschen in eine knappe ›Formel‹ fasst: ›Ja, aber nicht so. – Wenn nicht so, dann anders. – Also so ist das.‹ Ja, du darfst krank sein, aber nicht auf diese Weise. – Wenn nicht so, dann geh/such einen anderen Weg. – Was dann passiert führt weiter zu einem ›aha, so ist das‹. Ich entdecke darin eine Analogie zum Spannungsverhältnis von Absencing und Presencing. Der Sprung aus dem Absencing/down loading heraus und hinein in einen Prozess des Presencing mit den drei Bewegungen: Sensing, als eine ›Lernreise‹ durch das ›Ja, aber nicht so‹. Presencing als Erfahrungsraum des ›wenn nicht so, dann anders‹ bis hin zum Durchgehen durch das ›Nadelöhr‹ und die Konfrontation mit der Frage ›Wer bin ich?‹ Realizing als ein prototypisch zu erlebendes ›also so ist das‹. Wie kommt es, dass solche Fragen und Zusammenhänge ›auftauchen‹?

Es ist Andreas Hinz und seinem Team der Universität Halle-Wittenberg zu verdanken, dass ich mich 2014 von deren Thema ›Inklusion ist die Antwort – was war nochmal die Frage?‹ zur Ausrichtung der 29. IFO-Tagung deshalb ansprechen ließ, weil hinzugefügt wurde, dass die Tagung von der ›Theorie U‹ ausgehe und die Teilnehmenden zu einer dreitägigen gemeinsamen Lernreise zum gemeinsamen Erkunden unserer Wege und Erfahrungen im Feld der Inklusion einlädt. Dies lies mich aufhorchen.

Bei der Vorbereitung zur Teilnahme an dieser IFO Tagung 2015 und danach dann an denen von 2016 und 2017 habe ich danach gesucht, ob sich denn im Feld der mit Inklusion befassten wissenschaftlichen Beiträgen ablesen lässt, dass sich neue Landschaften gebildet haben. Ich bin vier Stimmen begegnet, die ich zu Wort kommen lassen will:

Klaus Dörner

Die erste Stimme ist die von Klaus Dörner aus dem Jahre 2007. Durch sie möchte ich beispielhaft die Situation illustrieren, in denen sich gewisse ›Ritter‹ befinden und dabei ein mehr ›organismisches Bild‹ zurate ziehen, das den Prozess des Wandelns ankündigt. Die ›Ritter‹ möchten gerne ›aus der Haut fahren‹, wie der werdende Schmetterling im Status seiner Existenz als Kokon. Aber es ist nicht das ›Erlangen‹, das ›genutete Metall zum Bersten‹ zu bringen, es ist vielmehr das ›Bewusstwerden‹ einer notwendigen Metamorphose, um das es hier geht.

Erkennen – Erlangen

»Es ist nur eine Sache des Erkennens, nicht des Erlangens«, sagt Zen-Meister Wolfgang Kopp (Dreher, 2018, S. 243) und drückt kernhaft aus, was Klaus Dörner in seinem Beitrag »Verantwortung vom Letzten her. Warum meine Anerkennung des Behinderten zu kurz springt und Solidarität überspringt oder wie professionelle Praxis mit Behinderten durch Emmanuel Levinas ethisch vollständiger zu begründen ist« (Dörner, 2007) uns nahe bringen kann. Dörners Beitrag dient hier als Beispiel, was es bedeutet, in ein System eingeordnet, ihm unterworfen zu sein. Er erhellt zwei unterschiedliche Formen der Verantwortung gegenüber lebenslänglich in Institutionen festgestellten Menschen mit Beeinträchtigungen. Eine nennt er professionell anerkennend-aktiv-intentional, die sich aus dem Ich als Aktionszentrum, aus einer aktiv-asymmetrischen Subjekt-Objekt-Dimension herleitet, die den Anderen mir gleichzumachen, anzueignen, ihn zu überzeugen, ihn zu manipulieren und zum Konsens mit mir zu bringen versucht. Sie gehört zur »Profi-Behinderten-Beziehung« (Dreher, 2018, S. 143), verabsolutiert wird daraus Herrschaftstechnik. Die zweite ist eine Verantwortung vom Anderen her. Der Andere setzt mich ein, er (an)erkennt mich, ich setze mich dieser Verantwortung aus, ihm antwortend vor-intentional, vor-reflexiv, primär, fundierend. Diese Verantwortung erwächst aus einer passiv-asymmetrischen Objekt-Subjekt-Dimension, »in der der Andere als Aktionszentrum durch seine sprechenden Augen […] mit bedeutet und befiehlt, ihn nicht zu töten, zu instrumentalisieren oder allein zu lassen, vielmehr in seinen Dienst (als Gegenteil von Dienstleistung) zu treten, sein Assistent zu sein«. Diese Sicht gründet in der Philosophie Emanuel Levinas’ (Dreher, 2018, S. 144). Die Basis für die Sicht- und Handlungsweise ist Dörners Gütersloher Deinstitutionalisierungsprojekt. In seiner Erfolgsgeschichte verbergen sich Wandlungsimpulse, die ihren Grund auch in erfahrenen Kränkungen der Akteure haben. Zum einen war in diesem Projekt kränkend die Aufkündigung des aneignend-(an)erkennenden, selbstbestimmten Profi-Verantwortungssubjekts, zum anderen aber auch das Erkennen von Kränkungen aufseiten der Anderen, die eine Langzeitpatientin ein paar Monate nach ihrer Entlassung in ihre Wohnung so ausdrückt:

»[…] nun habe ich meine Selbstbestimmung, lebe in dieser schönen Wohnung; jedoch wochenlang, monatelang, immer nur allein mit dieser Selbstbestimmung wohnen, ohne dass mich jemand braucht, das hielten Sie, Herr Dörner, keine 14 Tage aus« (Dreher, 2018, S. 144).

Das System Langzeitunterbringung bewirkte, dass die Profis Jahre brauchten, um sich diesen doch naheliegenden Gedanken von den Menschen mit Beeinträchtigungen beibringen zu lassen, dass nämlich Sozialprofis gerade nicht ›Bedeutung für Andere‹ gegen Geld anderen wegnehmen und monopolisieren dürfen, sondern dass für alle gilt: »Jeder Mensch will notwendig sein und kann dies er nur vom Anderen her« (Dreher, 2018, 144).

Denken und Handeln vom Anderen her

Diese Erfahrungen leiten Dörner zu (s)einem Kategorischen Imperativ für die Solidaritätssteuerung sozialen Handelns: »Handle in Deinem Verantwortungsterritorium so, dass Du Dich zum Einsatz aller Deiner Ressourcen – auch gegen die eignen Interessen – vom Andren her bestimmen lässt, beginnend vom Letzten her, bei dem es sich am wenigsten lohnt« (Dörner, 2007, S. 181). Dieser Imperativ geht aus »vom Anruf, Anspruch, von der Transzendenz des Anderen – als unüberbrückbarem Abstand zu mir« (Dreher, 2018, S. 144).

Aktiv-asymmetrisch Passiv-asymmetrisch

Dörners Gütersloher Projekt überbrückt, vereinfacht gefasst, extrem entgegenstehende Pole: Auf der einen Seite begegnet uns die Darstellung eines äußerst langwierigen Prozesses von in Heimen institutionalisierten Menschen, denen offenbar ohne Not und aus professionellem Eigennutz verfassungswidrig Persönlichkeitsrechte vorenthalten oder beschränkt zugestanden werden und die Zähigkeit, am profi-zentrierten Egoismus festzuhalten. Auf der anderen Seite ein Sorge-Befehl vom Letzten her, konkret eingegrenzt auf einen einzigen Menschen, absolut und kategorisch verbindlich, »als gäbe es auf dieser Welt nur diesen einzigen Menschen, auf den man alle Ressourcen der Welt zu verschwenden habe« (Dreher, 2018, S. 145). Diese Pole, einerseits eine notwendige aktiv-asymmetrische Orientierung und andererseits eine gegenläufige passiv-asymmetrische Orientierung zu vereinen in einem übergreifenden Ganzen, das Inklusion genannt werden kann, scheint schwierig und gilt für viele als ›u-topisch‹, ›u‹ im Sinne des griechischen ›nicht‹ und ›topos‹ als Ort, also als ein ›Nicht-Ort‹ oder ›kein Ort‹, wo so etwas wirklich werden kann. Bleibt damit Inklusion utopisch?

Inklusion gilt für alle

Eine zweite Stimme kommt von Karlheinz Imhäuser und dem Beitrag »Was ist Inklusion und wie kann sie gelingen?« (Imhäuser, 2014, S. 8–11). Imhäuser hebt hervor, dass Inklusion voraussetzt, »dass nicht nur Bildungseinrichtungen, sondern alle Lebensbereiche in ihrem Zusammenspiel gesehen werden«. Für Imhäuser ist der Anspruch auf Teilhabe in der UN-Behindertenrechtskonvention universal, beschränkt sich nicht auf Menschen mit Behinderungen, sondern gilt »für alle Menschen«, wie dies in Aktionsplänen der Länder – beispielhaft an NRW gezeigt – zum Ausdruck kommt. Allerdings setzt der Weg voraus, »Barrieren in den Köpfen der Menschen« zu beseitigen und das Gemeinwesen insgesamt unter inklusiven Gesichtspunkten weiterzuentwickeln: »Das inklusive Gemeinwesen ist der Ort, an dem jeder Mensch wahrnehmen kann, dass er eine ›Wirkung‹ hat und etwas beitragen kann, in seiner Bildungseinrichtung, seinem Verein/Verband, seiner Kirche, an seiner Arbeitsstelle usw. Auch die Kommune selbst beziehungsweise der Stadtteil/das Quartier und ihre Verwaltung/die Politik können selbst wirksam werden, in unserer Gesellschaft eine inklusive Kultur zu etablieren.« Und wann soll dies geschehen?

Imhäuser zieht einen Vergleich als Analogie zur Inklusion heran: Nachhaltigkeit. Der Autor ist der Meinung: »Durch Inklusion wird es, ähnlich wie beim Begriff der Nachhaltigkeit, der ab den 1970er Jahren bis heute in unterschiedlicher Intensität mehrere Dekaden geprägt hat, zu einem langwierigen und fundamentalen Wandel im Denken und Handeln unserer Gesellschaft kommen, für dessen Abschluss es keinen terminierbaren Zeitpunkt geben kann.« Bezogen auf ›Inklusion‹ stehen wir jetzt in der ersten Dekade. Eine Zitation von Barbara Brokamp klingt fast so, als ob ihr ein Wasserzeichen ⮍›zu-grunde‹ läge:

»Auf allen Ebenen unserer Gesellschaft können – auch in kleinen Schritten und Gesten – gegenseitige Achtung, Wertschätzung und Verantwortungsübernahme gelebt werden. Sie können dazu beitragen, dass Menschen nicht beschämt, sondern mit Respekt unterstützt werden; dass Menschen sich für neue Sichtweisen öffnen; dass zunächst schwierig erscheinende Situationen konstruktiv gelöst werden (…).

Wir überdenken unsere eigenen Vorurteile, reflektieren unsere Kommunikation mit anderen, sehen auf unser Team oder unsere Einrichtung mit anderen Augen, nehmen Barrieren wahr und bauen sie ab, entdecken neue Ressourcen, Chancen und Potentiale (…).

Ob in Nachbarschaften, Kommunen, Unternehmen, Parteien oder Regierungen – Inklusion ist weder eine beliebige fixe Idee noch ein Rezept, wie man ›bestimmte Gruppen behandelt‹ oder ›integriert‹. Inklusives Handeln ermöglicht vielmehr angemessenes, menschenwürdiges und gleichberechtigtes Umgehen aller miteinander – für eine Gesellschaft, in der ausnahmslos alle von einer selbstbewussten und die Realität der Vielfalt annehmenden Gemeinschaft profitieren.«

Uwe Becker
Die Inklusionslüge

David und Goliath

Die dritte Stimme ist die von Uwe Becker, hörbar geworden in seiner Publikation Die Inklusionslüge. Behinderung im Flexiblen Kapitalismus (Becker, 2015). Seine umfassende und scharfsinnige Analyse bewundere ich. Becker kommt in einer differenzierten Auseinandersetzung, insbesondere den sozio-ökonomischen Hintergründen des Für und Wider von Inklusion, zu dem Schluss, dass die Diskussion durch sich widersprechende Logiken geprägt ist. Von ihm entleihen wir das Bild von David und Goliath: »Die Dignität (der) ökonomischen Logik ist deutlich höher graduiert als die Logik jenes Menschenrechtsprojekts der Inklusion … Die Kollision beider Logiken gleicht eher dem Kampf zwischen David und Goliath, nur dass David in diesem Fall unterliegt« (Becker, 2015, S. 184).

Auf das engere Feld der Schule bezogen lässt sich dieses Bild, um die Spannung in ihm zu explizieren, strukturell so ausmalen:

»… Ergänzend zur Leistungszentrierung des Bildungssystems (wird) eine empathische, personen- und entwicklungsbezogene Pädagogik etabliert oder die hoch selektiven Mechanismen des bestehenden Schulsystems werden schlichtweg im ›Inklusionssystem‹ weitergeführt« (Becker, 2015, S. 152) – und die Neutralitätshaltung, man könnte auch sagen politische Handlungsabstinenz, des Wissenschaftsbetriebs, wird’s ertragen, auch wenn »David in diesem Fall unterliegt«. So einfach ist das.

VDS

Eine vierte Stimme habe ich dem Bericht einer Tagung des Instituts für Lehrerbildung 2016 mit dem vds-NRW entnommen, die unter dem Motto »Gemeinsam Lehren und Lernen – Die Rolle der Sonderpädagogik innerhalb der inklusiven Fachdidaktik und einer gemeinsamen Unterrichtsverantwortung« (vds, 2016) stattfand. Ich greife nur punktuell Hinweise heraus, mit denen der Berichterstatter, Johannes Schumacher, ehemaliger Studierender der Heilpädagogischen Fakultät und für mich wegweisend im kommunikativen Umgang mit sogenannten ›Schwerbehinderten‹ (Dreher, 1996, S. 60ff.), andeutet, welche Spannungsfelder Sonderpädagogik und Allgemeine Pädagogik gemeinsam zu betreten haben.

Schumacher beginnt seinen Bericht mit dem Hinweis: »In einer sich inklusiv verändernden Bildungs- und Schullandschaft muss sich die Sonderpädagogik neu verorten«. Etwas später wird es ›spannend‹, wenn es um das Verhältnis von Inklusion und Sonderpädagogik geht. Denn: »Eine kategoriale Auffassung von Behinderung und Förderschwerpunkten ist nach wie vor zentraler Gegenstand (sonder-)pädagogischer Theorie und Praxis und macht die Identität vieler SonderpädagogInnen aus. Sonderpädagogik benötigt (derzeit noch) Etikettierungen, um eigene notwendige Ressourcen sicher zu stellen … Aus inklusiver Sicht ist ein verändertes Selbstverständnis der Sonderpädagogik nötig. Es gilt Perspektiven einer ›nonkategorialen‹ Sonderpädagogik zu entwickeln, ohne dabei die förderschwerpunktspezifischen Expertisen aufzugeben« (vds, 2016, S. 4). Sprichwörtlich und etwas frech lässt sich das so ausdrücken: »Wasch mir den Pelz, aber mach nicht nass!« Analoges gilt für die Allgemeinpädagogik. »… auch die Regelschule kategorisiert und sondert aus. Die verbreitete und in ihrer Grundintention durchaus zutreffende Kritik an Sonderpädagogik als aussondernder Pädagogik greift insofern zu kurz, als Aussonderung ja nicht nur durch die Sonderpädagogik stattfindet, sondern auch im allgemeinen Schulsystem und im Hinblick auf ›Abweichungen‹ aller Art« (vds, 2016, S. 4). Daraus lässt sich schlussfolgern:

Nicht abschaffen – modernisieren

»Inklusive Bildung kann kein Plädoyer für die Abschaffung der Sonderpädagogik sein, sondern vielmehr eine Aufforderung, sich zu modernisieren und sich an einem pädagogischen Reformprozess von gesamtgesellschaftlichem Ausmaß zu beteiligen. Dieser Auftrag ist genauso an die allgemeine Schule gerichtet, die ihre Formen von Etikettierung und Selektion überwinden muss. Perspektivisch brauchen wir eine ›inklusionskompetente Allgemeine Pädagogik‹« (vds, 2016, S. 4).

Extended
professionalism

Erneut bleibt eine Spannung bestehen, die aber im ›Alten‹ stehen bleibt, letztlich im ›Mehr vom Gleichen‹: Nicht abschaffen – ›nur‹ modernisieren – obgleich an einen ›gesamtgesellschaftlichen Reformprozess‹ erinnert wird. Der aber als ›Re-form‹ ›ungefährlich‹ ist, weil letztlich nicht ernsthaft ›gewollt‹ und da ›diesmal‹ ohnehin ›Goliath‹ gewinnen wird. Und so wird sich konzentriert auf den »konkurrierend aushandelnden Umgang im Lehrerkollegium«, auf die Abwendung oder Verringerung des »Professionalisierungsrisikos« bei SonderpädagogInnen – das »Leitbild einer ›extended professionalism‹ …, das sich nicht durch Kompetenzkataloge, sondern durch Haltungen auszeichnet« scheint Lichtblicke zu eröffnen (vds, 2016, S. 5).

Die Stimmen zusammengefasst, geben folgendes Bild:

  •  Die Pole einer einerseits notwendig aktiv-asymmetrischen Orientierung und andererseits eine gegenläufige passiv-asymmetrische Orientierung der Verantwortung gegenüber lebenslänglich in Institutionen festgestellten Menschen mit Beeinträchtigungen zu vereinen, in einem übergreifenden Ganzen, das Inklusion genannt werden kann, scheint schwierig.
  • Inklusion: Dekade 1

    Bezogen auf ›Inklusion‹ stehen wir jetzt in der ersten Dekade eines langwierigen und fundamentalen Wandels im Denken und Handeln unserer Gesellschaft.

  • Logiken: Ökonomisch vs. Menschenrechts-basiert

    Die Kollision zweier Logiken, der ökonomisch orientierten versus die des Menschenrechtsprojekts der Inklusion, gleicht eher dem Kampf zwischen David und Goliath, nur dass David in diesem Fall unterliegt.

  • Sonderpädagogik modernisieren

    Sonderpädagogik nicht abschaffen – ›nur‹ modernisieren.

Utopia

Alles also nur ›utopisch‹? Nur Wunschdenken?

Integrales Bewusstwerden

Seitdem mir Ende der 1970er Jahre Jean Gebser begegnet war, drängte sich sein Denken hartnäckig und permanent in meine akademische Arbeit, ohne dass ich auf Momente des Wahr-Nehmens auch solche des Wahr-Gebens hätte können folgen lassen. 1995 versuchte ich seinen Einfluss in einem Beitrag für Band 1 der Reihe AKILAB zu fassen: »Sonderpädagogik, Integration und ›integrales Bewusstsein‹«. Der Terminus ›Inklusion‹ war damals noch nicht ›geboren‹, aber Gebsers Verständnis von ›integral‹ weist auf eine ›Bewusstwerdungsqualität‹, die sich verabschiedet von einer Einseitigkeit des – vereinfacht ausgedrückt – linear-mental-rationalen Denkens und dessen Perspektivitätsgebundenheit, hin zu einem ›integralen Denken‹, in dem Aspekte wichtig werden, »… die Raum und Zeit und auch die Persönlichkeit übersteigen, indem Gebser die Beziehung des Menschen zu sich und der Welt durch neue Qualitäten benennt, wie denen von Zeit-Freiheit (nicht Zeitlosigkeit), Raum-Freiheit (nicht Raumlosigkeit) und Ich-Freiheit (nicht Ichlosigkeit). Damit werden, bezogen auf die Geschichte der Bewusstwerdung des Menschen, heute die Fundamente einer aperspektivischen Welt sichtbar, deren Strukturen getragen werden von einer a-rationalen Haltung, die zur Wahrnehmung und Wahrgebung des Ursprungs in der Gegenwart befähigt« (Dreher, 1996, S. 169).

Ich habe damals Karlheinz Kleinbach als Zeugen und als Zeugnis eines solchen Verstehens herangezogen:

»Solange meine Wünsche, Absichten, Erwartungen von meinem Gegenüber aufgenommen und erwidert werden, solange ich mich in absehbaren Routineabläufen sozialen Kontakts befinde, nehme ich den anderen Menschen in seiner Andersheit nicht wahr. Erst wenn mein Bewusstsein in seiner Rückläufigkeit und in seinem Selbstbezug in Frage steht, bricht meine Ordnung zusammen: Claus schaut mich an und hält meine rechte Hand fest für Minuten, schiebt mich vor sich her über den Pausenhof. Er ist ›da‹, nicht ›wieder da‹. Dieser Augenblick ist nicht einer von vielen möglichen, sondern wir sind in diesem Augenblick Komplizen, können aber diese Komplizenschaft keinem Dritten plausibel machen, es ist eine Komplizenschaft um nichts, kein Ich-Du, keine Intimität, die ihre eigene Geschichte hat. Es ist ein Da-sein, in dem unsere Verlautbarungen zwar nicht unverständlich sind, aber einem Dritten gegenüber nur mitteilbar sind unter Preisgabe ihrer Einzigkeit« (AKILAB, 1995, S. 50).

›Erst wenn mein Bewusstsein in seiner Rückläufigkeit und in seinem Selbstbezug in Frage steht, bricht meine Ordnung zusammen.‹

Damals konnte ich es mir (noch) nicht erlauben, aus dieser Szene klar Position zu beziehen zu einem ›empathischen Erkenntnis-Subjekt‹ dessen Fundament in eine Sprache zu fassen, wie dies heute Hildegard Kurt tut. Mit ihren Worten schaue ich jetzt auf die eben beschriebene Situation:

Liebendes
Erkenntnissubjekt

»Das liebende Erkenntnissubjekt ist bemüht, sich seinen Gegenstand weitestgehend ohne vorgefertigte Vorstellungen und Meinungen zu nähern. Auch einer definierten Kausalität gegenüber bewahrt es bewusst Distanz. Es begegnet seinem Gegenstand in einer Haltung innerer Gegenwärtigkeit und wie absichtslos.

Es sucht geduldig nach Wegen, seine Wahrnehmung immer mehr zu verfeinern. Es unterscheidet klar, hütet sich aber vor vorschnellen Interpretationen. Es urteilt so wenig wie möglich. Denn jedes Urteil schafft Abstand und trennt den Urteilenden ab. Das empathische Ich im Prozess des Erkennens will aber sich dem Sosein des jeweiligen Phänomens maximal nähern. Es will dessen Evidenz zum Aufscheinen bringen.

Das liebende Ich im Prozess des Erkennens beendet die tyrannische Einseitigkeit analytischer Verfahren, indem es sie einbettet in eine erweiterte Erkenntnispraxis. Anstatt standardisierte Methoden des Erfassens, Bemessens und Bewertens heranzuziehen, versucht es, aus einer inneren Teilhabe an dem untersuchten Phänomen heraus die jeweils angemessene Form der Annäherung und des Umgangs zu entwickeln …« (Kurt, 2010, S. 110f., Hervorh. d. A.).

Raupe Nimmersatt

Solch anderes Denken bedeutet, von alten Mythen oder Metaphern Abschied zu nehmen, um sich in neuen Bildern zu finden. Ähnlich wie Jan Gebser sich immer wieder in meine Arbeit einmischte, so ging es mir mit der Geschichte von Eric Carle Die kleine Raupe Nimmersatt. Von ›ihr‹ ging der Impuls aus, ›metamorphosierend‹ zu denken und zu wirken zu beginnen.

Nicanor Perlas Metamorphosierend Denken

Metamorphose als natürlicher Prozess und Metapher veranschaulicht der Alternativpreisträger Nicanor Perlas unter Bezugnahme auf die Biologin Norie Huddle, am Beispiel der Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling. Was in der biologischen Metamorphose geschieht, nämlich einerseits ein Desintegrationsprozess des ›Organismus Raupe‹ und andererseits ein ›Kreationsprozess‹ eines ›imaginativ‹ entstehenden ›Organismus Schmetterling‹ – der ›eine Zukunft die schon in der Gegenwart enthalten ist‹ – repräsentiert –, ist für Perlas die Grundlage, darin eine Analogie für soziale Transformationen zu erkennen. Der natürliche Prozess lässt sich mit sozialen Metamorphosen vergleichen, die das Zusammenleben der Menschen charakterisieren. Was aber in der Natur ›quasi von selbst‹ geschieht, muss in der menschlichen Welt ergriffen und durch wirkliches Wollen geschaffen werden.

Nicht nur damals, sondern (teilweise) bis heute habe ich mich im Kokon der Metamorphose so erlebt, wie das im Bild gezeichnet wird:

Metamorphose

Die im Raupenkörper entstehenden neuen Zellen, Imagozellen, schwingen in einer anderen Frequenz als der Rest des Raupenkörpers, werden dadurch als feindlicher Fremdkörper gehalten, angegriffen und verschlungen. Ich erinnere mich schmerzhaft an manche Vorträge vor Auditorien, wo eine solche Frequenzdissonanz den Raum füllte und ich mich fast verschlungen erlebte von ›Angreifern‹, die in mir nur einen abgehobenen Professor erblicken konnten, der ihren Status infrage stellte und daher Gefahr bedeutete.

Heute nun erlebe ich mich in einem anderen ›Stadium‹ analog dem folgenden ›Raupenstadium‹: »… diese neuen Imago-Zellen tauchen weiter auf und werden immer mehr. Schon bald kann das Immunsystem der Raupe diese Zellen nicht mehr schnell genug vernichten. So überleben immer mehr der Imago-Zellen diese Angriffe. Und dann passiert etwas Erstaunliches: Die kleinen und bis dahin ziemlich einsamen Imago-Zellen beginnen sich in kleinen Gruppen zu verklumpen. Dabei schwingen sie auf einer ähnlichen Ebene und beginnen von Zelle zu Zelle Informationen miteinander auszutauschen. Dann, nach einer Weile, passiert wieder etwas höchst Erstaunliches: Diese Klumpen von Imago-Zellen beginnen Gruppen zu bilden! Sie ergeben einen langen Faden von in Haufen verklumpten Imago-Zellen, die in der gleichen Frequenz schwingen und nun in größerem Maßstab miteinander innerhalb der verpuppten Larve Informationen austauschen.

Wandlung
von Innen

Dann, an einem bestimmten Punkt, scheint dieser lange Faden von Imago-Zellen plötzlich zu begreifen, dass er etwas ist. Etwas anderes als die Raupe. Etwas Neues! Und mit der Erkenntnis einer eigenen Identität verwandelt er den eigenen Raupenkörper von innen. Diese Erkenntnis ist die eigentliche Geburtsstunde des Schmetterlings …« (Perlas, 2009, S. 241).

Lausche ich auf die vier oben genannten Stimmen, dann entnehme ich der von Dörner, dass eine Verpuppung anstünde, aber sowohl die Impulse von außen als auch die von innen noch zu schwach sind, um das ›System‹ zu diesem Schritt zu animieren. Analoges gilt für den VDS Report und die Goliath-Mentalität lässt Raupen erst gar nicht zu. Was Imhäuser anspricht, ermutigt, zu erwarten, dass die ›Kokonarbeit‹ zum Arrangement der Raupenverwandlung führt – und die Carl-Richard Montagstiftung hat schon einen eindrücklichen Beitrag geleistet auf dem Weg der Transformation hin zur Erkenntnis, dass dieser ›Faden etwas ist‹. Etwas Neues! Es ist eine ›Geburtsstunde‹.

Theorie U

Blicke ich heute zurück, so ist die Begegnung mit Otto Scharmer und der ›Theorie U‹ mit dem eben genannten Stadium meines Lebensweges zu verknüpfen. Mir ist schrittweise ›aufgegangen‹, was es bedeuten mag: ›Wandlung von innen‹. Die ›Theorie U‹ hat mir die Erkenntnis (m)einer eigenen Identität näher gebracht, mich ermutigt, diese Erfahrung mit anderen zu teilen, sie mit Werdeprozessen von Institutionen zu verknüpfen und zu entdecken, welche Perspektiven auf Felder in neuen Landschaften – ökonomischen, sozialen, spirituell-kulturellen – möglich werden. Und dass es Wege dahin gibt, die zu einem ›Umdenken mit Methode‹ inspirieren (Dreher, 2013).

Sie hat mir auch gezeigt, dass für Wissenschaftsburgen, die an der Grenze zu solchen Landschaften stehen, von dort aus noch immer ihre ›Raubzüge‹ auf ›Naheliegendes‹ ausrichten, um das »scheinbar gute alte Leben zu verteidigen« (Perlas, 2009, S. 240), dessen Zeit abgelaufen ist. Angebrochen ist eine Zeit, nicht zuletzt verstärkt durch ganz neue Formen der Kommunikationsmöglichkeiten, in der nun, als Analogie für soziale Transformationen, einzelne Individuen sich »im automatischen Immunsystem der alten Gesellschaft« behaupten können (Perlas, 2009, S. 241). Solche ›imaginierenden Individuen‹ müssen sich zusammenfinden, um Bewegungen zum Aufbau einer besseren Gesellschaft zu impulsieren und zugleich um »mit- und untereinander Synergien zu schaffen«, die so etwas wie den »Umriss einer zukünftigen Gesellschaft« zu verwirklichen vermögen. Inklusion ist die Antwort. Was musste noch einmal zurückgelassen werden?

Aber: Was sich in der Natur als Transformationsprozess – bewirkt eventuell durch eine höhere Form von Intelligenz oder ein formendes Feld im Organismus – von alleine vollzieht, muss in der menschlichen Welt durch menschliche Intelligenz entwickelt werden: Wandel muss aktiv gewollt werden!

An diesem Punkt möchte ich den Titel des Beitrages erweiternd beleuchten.

Theorie U

›Theorie U‹

Ich bin in verschiedenen Publikationen auf die Bedeutung und Verwirklichung der ›Theorie U‹, auch im Kontext des Kulturfeldes Bildung, eingegangen. In mir hat diese Theorie ein Wasserzeichen entstehen lassen, das mich erinnert und ermutigt an eine ›Mission‹, die ich einmal so ausdrückte: »Rüttle die Welt wach und begegne allem, Mensch und Natur, mit tiefer Achtung und Liebe«. Der lange Weg meines eigenen Bemühens um das ›Projekt Inklusion‹ lässt mich wahrnehmen, dass sich dieses nicht einfach nur ›abarbeiten‹ lässt durch immer neue und verfeinerte Fragestellungen. Für mich ist dieses Projekt eine Aufforderung geworden an uns alle – Individuen, Gruppen, Institutionen, Gemeinwesen, an Ökonomie, Societas und Kultur im weitesten – an einem Bewusstwerden unseres Anteils an dem, was um uns geschieht, teilzunehmen, Fragen und mögliche Antworten ohne Vorbehalte miteinander zu teilen und uns gemeinsam auf eine Reise zu machen, um zu erkennen, dass eine zu schaffende Wirklichkeit uns braucht!

Die ›Theorie U‹ unterstützt uns darin, drei ›innere Wissensinstrumente‹ zu beleben: Die Öffnung des Denkens, die Öffnung des Fühlens und die Öffnung des Wollens.

Hieran schließt sich die folgende Perspektive an.

Anthropozän

Den Begriff ANTHROPOZÄN entnehme ich dem ›Manifest für das Anthropozän‹ von der schon mehrfach erwähnten Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt und dem Publizisten Andreas Weber.

Verantwortung
liegt bei uns

Es mag für ein Befasstsein mit Fragen ›behinderter Menschen‹ – auch wenn unter dem übergreifenden Thema Inklsuion – als unangemessen gedeutet werden, wenn nicht nur an jenes früher angesprochene anthropologische Fragen erinnert wurde, anthropogenetische Verbindungslinien gezogen wurden, ein offener Blick für eine Verknüpfung der Inklusionsthematik mit einem Werden von Humanität angemahnt wurde, sondern wenn auch noch eine Perspektive, ›Anthropozän‹ oder ›Erdzeitalter des Menschen‹ genannt, hinzugenommen wird.

Ich bin froh, dass ich mir heute erlaube, solche weiten geistigen Sprünge zu machen und mich nicht sofort irgendeine ›voice of judgement‹ (Stimme des Beurteiltwerdens) verunsichert und zurückhält, etwas auszudrücken, was befremdend klingen mag und zugleich befreiend werden kann.

Zu lange habe ich mir ›Sorge um den Menschen vom Rande her gesehen‹ gemacht, in dem Sinne, dass ich keinen ›rechten Weg‹ fand hinaus aus jenem ›schützenden Silo‹ – zuvor nannte ich es ›Ritterburg‹ –, das – nicht zuletzt durch den Wissenschaftsbetrieb – um geistigbehinderte Menschen errichtet wurde. Heute finde ich langsam andere, neue Ein-Sichten, die in grundsätzlichere und allumfassendere Zusammenhänge hineinschauen lassen – wie zum Beispiel jene Erkenntnisse aus dem Gestaltkreis oder auch jenem epistemologischen Analogon von Maturana und Varela, dass alles Gesagte von Menschen gesagt ist und so Wegweiser sein kann zu jener Episteme: »Der Anthropozän-Diskurs will, indem er betont, dass alle Natur Kultur ist – also menschlich –, unsere Verantwortung für sie verbindlich machen« (Weber & Kurt, 2015, S. 8). Wir sind nicht nur auf der Erde, wir sind diese Erde.

Wissenschaft

Von hier ausgehend wird es für mich heute Aufgabe, die Verantwortung von Wissenschaft für die Gemeinschaft neu wahrzunehmen. Auch hier bin ich froh, dass ich mich jetzt nicht in einer Synopse von Definitionen verstricken muss, um wissensanreichernd auf den Tisch zu legen, was denn ›Wissenschaft‹ sei.

Mitfühlende
Wissenschaft

Weber und Kurt sprechen in ihrem ›Manifest‹ von »Wissenschaft als mitfühlender Praxis« als Pol zur »objektive(n), zeitlos gültige(n) wissenschaftlichen Beschreibung«, deren Wissen nicht allgemeinverbindlich ist, sondern nur Systeme stabilisiert, in denen es entstanden ist (Weber & Kurt, 2015, S. 16).

»Ein planetarisches Miteinander erfordert, wachsam zu sein: Wo dient Wissenschaft dem Wissenschaftsbetrieb selbst? Wo legitimiert sie Interessen politischer, ökonomischer oder technischer Macht? Wo hingegen zeigt sich Wissenschaft als Instanz, die der Entfaltung des Lebendigen dient und den Anthropos in seiner Praxis der Lebendigkeit zu einem Selbstsein-in-Verbundenheit bewegt? … die Welt (ist) ein Gewebe von Beziehungen mit der Kraft, Lebendigkeit zu erzeugen – als Kultur im Sinne schöpferischen Miteinanders, als Bewusstseinskunst und als eine Lebenskunst ökologischer Verwandlung« (Weber & Kurt, 2015, S. 17).

Natürlich gehört es zum ›täglichen Geschäft‹ z. B. von Schule und Inklusion, nach all den konkreten Fragen von Curricula, Lernprozessen und anderem mehr zu fragen. Aber so, wie Saint-Exupéry empfiehlt, um Schiffe zu bauen nicht mit der Materialsammlung zu beginnen, sondern jenem inneren ›Call‹ nachzuspüren, so gilt es für die Wissenschaften, immer neu nach deren Selbst-Verständnis zu fragen. Impulsgeber dafür kann das ›Wasserzeichen-U‹ sein.

Wasserzeichen ⮍

Wasserzeichen als Symbol einer Future that stays in need of us

Wasserzeichen in Papieren haben mich schon immer fasziniert. Aus eigenen Erfahrungen mit Papierschöpfen – auch im heilpädagogischen Kontext – beeindruckt(e) mich immer neu, wenn ein ›Zeichen‹ im Schöpfvorgang in die Papiermasse eingelegt wird und nach dem Trocknen eines geschöpften Blattes sichtbar bleibt, ohne den ›Zweck‹ des geschöpften Papieres – nämlich darauf schreiben zu wollen – zu ›beeinträchtigen‹ und dennoch immer in (s)einer Transparenz gegenwärtig zu sein.

Hier liegt für mich die Analogie zum ›Wasserzeichens ⮍‹. Eingeprägt oder ›unterlegt‹ der ›Lebens-Pagina‹, auf der ein jeder seine ›Lebens-Geschichte‹ entfaltet, ›er-innert‹ das Zeichen an Wandlungsprozesse, vor und in denen wir permanent stehen. ›Durch‹ sie gestalten wir uns und die Welt, so unseren Halt immer neu suchend und findend.

Das Bild des ›Wasserzeichens‹ will die von Otto Scharmer benützen Perspektiven, wie »social grammar – social technology – new narrative of social change« (Scharmer, 2018, S. xii) ergänzen. Es signalisiert für mich in ›ein-drücklicher‹ Weise den Ernstcharakter Transformation, d. h. der Vorbereitung unseres Selbst für jene »future that stays in need of us« (Scharmer, 2018, S. 157).

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Für mich bleibt zentral, dass mit der UN-Konvention 2006 ein Impuls gesetzt wurde, der einerseits von vergangenen Erfahrungen ausgeht, sich zugleich aber ›quasi aus der Zukunft anmeldet‹, also anstößt, jetzt schon ›eine mögliche Zukunft zu leben‹. Dabei sind mir wichtig die Anstöße, die unermüdlich von Betroffenen ausgehen und für meine Gedankenlinien richtungsweisend sind.

Was das Projekt ›aus der Zukunft‹ anbetrifft, so schließe ich mich ganz der Feststellung von Karlheinz Imhäuser an und verbinde diese mit dem vorherigen Bild der Metamorphose eines Schmetterlings. Imhäusers Hinweis auf die ›erste Dekade der Inklusion‹ zeichnet die widersprüchliche Spannungssituation, die sich auch im Larvenstadium ereignet:

»Die vielen Inklusionspläne in Ländern, Kommunen und Unternehmen und die diversen verfügbaren Umsetzungsinstrumente sind für viele ein Synonym für die nächste ›von oben‹ verordnete gesellschaftliche Großbaustelle, die mit allen damit verbundenen Bedenken beäugt und skeptisch betrachtet wird«. Obgleich des angekündigten und auch im Munde geführten Wandels, ist das ›gewordene und gewohnte Immunsystem des Weiter-so in Gefahr‹, also kommt heftiger Angriff auf das, was da störend ›von oben‹ kommt. »Für andere sind diese Aktionspläne und die entstandenen und entstehenden Handlungsleitfäden aber das ›Baustellenmanagement‹ und damit der Referenzrahmen zur Umsetzung vor Ort«. Durch ›Handlungsleitfäden‹, an denen entlang sich Imagozellen organisieren und aus ihrem ›Zusammenhängen managen‹, entspringt die Erkenntnis, ›wir sind etwas anderes‹. Hier geschieht die Geburt eines Neuen.

Synergien

Im sozialen Feld Pädagogik hat die zweite Inklusions-Dekade zur Aufgabe, was Nicanor Perlas so ausspricht: »Gesellschaftliche Transformation« – ich ergänze in Richtung Inklusion – »wird erst dann wirklich möglich, wenn diese ganz verschiedenen Identitäten es lernen, mit- und untereinander eine Synergie zu schaffen. Denn diese Synergien sind so etwas wie der Umriss einer zukünftigen Gesellschaft, die sich verwirklichen will« – Imhäuser sagt ›Referenzrahmen‹, und Brokamp ergänzt »… für eine Gesellschaft, in der ausnahmslos alle von einer selbstbewussten und die Realität der Vielfalt annehmenden Gemeinschaft profitieren« (Imhäuser, 2014, S. 11).

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse (eigene und anderer)?

Make a system sense and see itself

Während meiner Hochschultätigkeit habe ich mir viele ›Kenntnisse‹ erworben, nicht nur intellektuell angereicherte, ich meine auch durch manche dialogische Begegnung, besonders mit ›Betroffenen‹, existenziell berührende. Manches davon habe ich schon in die Antworten zur Frage zwei einfließen lassen. Aber Kenntnisse sind nicht ›Erkenntnisse‹. Die Vorsilbe ›Er‹ in Er-Kenntnis meint ja, dass einer Kenntnis bis an die Wurzeln ihrer Entstehung und ihres Ergebnisses nachgegangen wird. Und dabei ist mir – fast erst heute – bewusster geworden, dass Ich-Selbst in diesem Erkenntnisprozess die zentrale Rolle spiele: Wir selbst sind diejenigen, die am ›Werde Prozess der Welt‹ beteiligt sind, verantwortlich wirkend und verpflichtend bewirkt werdend. In der ›Theorie U‹ greift Otto Scharmer auf eine Grafik zurück, die einmal einen durch ein Fernrohr schauenden Betrachter zeigt, der mithilfe seines Instruments nach draußen schaut. Vereinfacht und verkürzt gesagt: Eine wissenschaftlich anerkannte Attitude, um das, was außerhalb meiner ist, zu ›erkennen‹. Wenngleich diese ›naive Sicht‹ seit Langem überwunden ist, wenn die Naturwissenschaften uns zeigen, wie Instrumente auf die Untersuchung wirken, wie gestellte Fragen das Ergebnis beeinflussen können, so fällt es uns noch immer schwer, jenes oben skizzierte Fernrohr so umzubiegen, dass es auf uns selbst, also den Betrachter zeigt. Anders gesagt: »Making a system sense and see itself« (Scharmer, 2018, S. 17). In gewisser Weise empfinde ich die höchst informative Untersuchung zur ›Inklusionslüge‹ von Uwe Becker als gutes Beispiel der Sicht des Betrachters durch das Fernrohr, um festzuhalten, was da draußen passiert. Dies ist eine mögliche und legitime ›Ein-Stellung‹. Aber es ist mindestens ebenso bedeutsam respektive verpflichtend, unsere Anteile an der Situation und unser Mitwirken an einer ›Inklusionswahrheit‹ zu thematisieren. Mit Gebser ist von der ›InklusionsWahr-Gebung‹ zu sprechen. Damit lässt sich erneut anknüpfen an das Verständnis von Wissenschaft und ihr Auftrag im 21. Jahrhundert, erweitert durch den Aspekt des ›Enlivenment‹ als einer ›Kultur des Lebens und Verlebendigens‹ und des ›Convivialismus‹ als transformatorische ›Kunst des Zusammenlebens‹ (Adloff & Heins, 2015, S. 10).

KUBUS

Ich möchte hier auf ein Beispiel aufmerksam machen, das dazu beitragen kann, einen solchen Prozess, bezogen auf Menschen, die wir ›schwerbehindert oder komplex behindert‹ nennen, verstehen zu lernen. Ich beziehe mich auf ein Projekt, in seiner Kurzdarstellung auf youtube (https://www.youtube.com/watch?v=I9kXB4EGhMI) dargestellt, dessen Hintergrund schon in eine bestimmte Richtung weist: ›KUBUS – Verein zur Förderung der Kultur, Bildung und sozialen Teilhabe für Menschen mit und ohne Behinderung‹.

MitWissenschaft

Eindrucksvoll wird sichtbar gemacht, mit wie viel Reflexion, Phantasie und dialogischem In-Beziehung-treten Studierende sich einer Märchengeschichte nähern und sie schwer beeinträchtigten Menschen zur Begegnung anbieten. Die Art und Weise wie sie es tun, ist beispielhaft für eine ›zarte Empirie‹ im Goethe’schen Sinne (Dreher, 2013, S. 147). Die Projektleiterin, Barbara Fornefeld, kommentiert abschließend, dass die TeilnehmerInnen erstaunt sind, »wieviel mehr ›Schwerbehinderte‹ verstehen, wieviel mehr sie wissen, als wir bisher erkannt haben. Wenn man sie hineinnimmt in unsere Kultur, kommt auf einmal viel mehr, als das, was wir erwartet haben«. Für mich ist dies ein erhellendes Beispiel für das, was es bedeutet, wenn wir das Fernrohr wissenschaftlicher Beobachtung ›auf uns selbst richten‹. Wir erfahren dann, dass der andere Mensch immer schon ›Teil ist‹ unserer Welt und nur leben kann, wenn er diese Welt ›einatmen, spüren, sein zu-dieser-Welt-Sein als Apriori mitbringen darf‹ und nicht erst etwas ›leisten‹ muss, um ›dazu zu gehören, inkludiert‹ zu sein – dies geht dem »… wenn man sie hineinnimmt …« voraus. In eins damit gehört die Bereitschaft zur Mit-Wirkung des Begegnenden Ich als Du, als Perspektive 1. Person und 2. Person unabdingbar dazu! Dass unsere, als ›normale Welt‹ deklarierten ›Erwartungen‹, diese Sicht versperren können, wie Fornefeld sagt, ist Folge unserer blinden Flecke. Wir scheinen noch immer der Gefahr zu unterliegen, geharnischt und hoch zu Ross dem ›Lehensherrn Wissenschaftsbetrieb‹ unseren Tribut zu zollen – auf Kosten derer, die von uns abhängig sind, weil sie abhängig gemacht werden. Das Projekt wurde 2012 mit dem ›mitMensch Preis‹ ausgezeichnet. Der Terminus gibt Anlass dazu, Wissenschaft erneut, wie schon angedeutet, als ›MitWissenschaft‹ (Kurt, 2010, S. 118) zu assoziieren. Wenn Wissenschaft sich so verstehen ›will‹, dann mag es leichter werden, mehr Menschen ›ins Boot‹ (Fornefeld) einer solchen Arbeit zu holen – auch in ein ›Boot Inklusion‹. Und letztlich lässt sich die Botschaft ›spezifisch gewichten‹ durch die ›Dichte‹ des folgenden Gedankens: »Denn es ist nicht wahr, dass das Werk des Menschen getan ist, dass wir nichts mehr zu tun hätten auf der Welt. Das Werk des Menschen hat gerade erst begonnen« (Césaire, 1967, S. 5).

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachten Sie für besonders wichtig?

Theoretische Grundlagen

Ich habe mich in der letzten Dekade nicht mehr so intensiv mit theoretischen Grundlegungen innerhalb der scientific community befasst. Erwähnt habe ich schon den Einfluss des Oeuvres von Nicola Cuomo. Inspirieren tun mich noch immer die Beiträge von Georg Feuser, wenngleich für mich deren ›ideologische‹ Ausrichtung (z. B. deren materialistischen Denktradition) und deren intellektuelle Schärfe mit (permanentem) Unterton der ›Anklage‹ Hürden für ein mich darin finden errichten. Mehr ›zu Hause‹ bin ich bei Andreas Hinz.

Welche empirischen Forschungen erachten Sie für besonders wichtig?

Transformation

Ich selbst bin kein ›Empiriker‹, wenngleich wir uns in der Fachrichtung Anfang der 1980er Jahre mit einem ›empirischen Projekt‹ der schulischen Situation ›Schwerbehinderter‹ anzunähern versuchten. Ein Grund meiner ›Abstinenz‹ oder auch forschungstheoretischen und methodischen ›Unwissenheit‹ mag darin liegen, dass, wie schon angesprochen, meine akademischen Lehrer – besonders Otto Friedrich Bollnow – die ›empirische Wende‹ in der Erziehungswissenschaft nicht in der Weise mitvollzogen haben, sodass ein Funke zu mir übergesprungen wäre. Sogenannte ›wissenschaftliche Begleituntersuchungen‹ betrachte ich oftmals als ›Alibi-Untersuchungen‹, denn seitens der beteiligten ist (zumeist) niemand echt an Ergebnissen interessiert, oder milder ausgedrückt, Erkenntnisse, Einsichten haben keine oder kaum Konsequenzen. L’art pour l’art.

Empirie und
Bewusstwerdung

Daher ist eine Neubestimmung von ›Empirie‹ angesagt. Ausgehend vom Verständnis von Wissenschaft als einer dem Leben dienenden ›Institution‹, kann Empirie und empirisch forschen nicht bedeuten, nur unser ›Verfügungswissen‹ (Kurt, 2010, S. 43) zu erweitern, sondern Wissenschaft ist verpflichtet, ihren Fokus auf das Bewusstsein respektive Bewusstwerden des Menschen zu richten, auf das Bewusstsein des Fragenden und des Befragten, eingebettet in immer schon vorhandene soziale Felder und ausgerichtet auf deren Transformation.

Zur aktionsforscherischen Wende finden sich Hinweise in Lütje-Klose, 2017 und Feyerer, 2018.

Was waren aus Ihrer Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Selbstreflektive Wende

Ich würde nicht von ›interessantesten‹, sondern eher ›brisantesten‹ und auch nicht ›waren‹, sondern immer noch ›sind‹ sprechen. Für mich bleibt weiter ein ›Streitpunkt‹ die Partizipation ›Betroffener‹ (auch) in Lehre und Forschung. Nicht nur die Erfahrungen einer Katja Rohde (1999), eines Fredi Saal (Behinderte, 2000, S. 54) oder eines Armin Rist (Dreher, 2016) sind zu beachten, sondern insbesondere für Impulse, wie denen von Tobias Buchner, Oliver König und Saskia Schuppener, die sie im Sammelband Inklusive Forschung (2016) gebündelt haben, sind Wirkräume zu gestalten. Wirkräume, die für den Wissenschaftsbetrieb störend, vielleicht sogar verstörend sind, einmal, weil sich die Mitwirkenden in die Räume mit hineingenommen erfahren, durch eine »Erweiterung der Universität nach außen« (Scharmer & Käufer, 2000, S. 25), verknüpft mit dem, was auch als ›aktionsforscherische Wende‹ bezeichnet wird. Zum anderen aber auch, weil zur Erweiterung nach Außen – wie schon verschiedentlich eingefügt – eine solche nach ›Innen‹ gehört, die »selbstreflektive Wende auf die eigenen Muster von Aufmerksamkeit und Bewusstsein« (Scharmer, 2009, S. 40).

Intelligence
of the Heart

Solche Wendepunkte in die akademische Tätigkeit mit einzubeziehen setzt Markierungen, von denen Weite ausgeht und ein Sich-Öffnen möglich wird. Hildegard Kurt macht hierzu aufwühlende Beobachtungen. »Die Tragik der Moderne rührt wesentlich daher, dass sie Wissen und Liebe voneinander trennt … Zukunftsfähig werden bedeutet, Wissen und Liebe miteinander zu versöhnen oder vielmehr, die Wissenschaft zu öffnen für die Liebe. Eine zukunftsfähige Wissenschaft wird erkennend lieben und liebend erkennen« (Kurt, 2010, S. 104). Um ehrlich zu sein, brauche ich Mut, um zu solchem Denken ›öffentlich‹ zu stehen, wenngleich ich Nicola Cuomo zur Seite spüre. Ich bin aber froh, dass Kurts Verständnis von ›transtheoretischer Wissenschaft‹ couragiert von einem empathischen Erkenntnissubjekt ausgeht, welches das intellektuelle Subjekt ergänzt durch seine systematische Kultivierung des Herzens. Dieser Mut erleichtert zu akzeptieren, dass wir neue Quellen erschließen können, aber auch ›dürfen‹: »It feels like the future is now arriving and beginning to land … We experience that beginning as an intensifying global field of connections, people, and courageous initiatives who operate through a deepened source of human intelligence: the intelligence of the hear.« (Scharmer, 2018, S. 402). (Es ist, als ob jetzt die Zukunft ankomme um Fuß zu fassen …Wir erfahren diesen Beginn als ein intensives globales Feld von Verbindungen, von Menschen, von couragierten Initiativen, die aus einer vertieften Quelle menschlicher Intelligenz wirken: Der Intelligenz des Herzens.)

Welche Bezüge zu anderen Teildisziplinen der Pädagogik (aber auch Gender/Disability Studies) sehen Sie? Welche Probleme sehen Sie? Wie kann man sie verstärken?

Hier muss ich passen, da ich mich mit diesen Fragen nicht explizit befasst habe. Ich kann nur, informiert durch Teilnahme an Tagungen, soviel anfügen, dass es fatal ist, wenn die UN-Konvention über die Rechte Behinderter als ›Privileg Behinderter‹ betrachtet wird und andere Gruppen sich nicht angesprochen und miteinbezogen wahrnehmen.

Welche zukünftigen Aufgaben/Herausforderungen sehen Sie für die Praxis? Welche zukünftigen Aufgaben/Herausforderungen sehen Sie für die Forschung?

Abschließend möchte ich komprimieren, was zuvor teilweise ausholend dargestellt wurde. Ich versuche es ›aphoristisch‹ und markiere Aspekte mosaiksteinartig mit Spiegelstrichen:

  •  Inklusion in pädagogischen Feldern bedeutet, Ritterburgen zu verlassen und hineinzutreten in interdependente ökologische, soziale und spirituell-kulturelle Landschaften. Wenn wir Problemen in der Praxis begegnen, zum Beispiel bei der Frage nach Möglichkeiten einer gemeinsamen Schule und eines gemeinsamen Unterrichts, dann werden diese zum Thema der Verantwortlichen aus diesen Landschaften. Wir begegnen ihnen nicht als zurückgelassene, sondern als maß-gebend Kundige durch unser Denken über menschliches Verwurzeltsein ›vom letzten her‹. Wir nehmen sie hinein in eine Verantwortung, die nicht im Vergangenen gründet, sondern die ›aus der Zukunft‹ kommt und uns alle braucht!
  • Kernideen – Ideenkerne

    Hochschulen sind solche Sicht- und Handlungsweisen schwer zugänglich. Liegt es daran, dass sie unbeirrt und ausschließlich sich dem Diktat intellektueller Konstrukte unterwerfen, ohne lebendige Ideen, ohne ›Kernideen‹ (Kurt, 2010, S. 13)?

  • modus vivendi

    Auf ›Kernideen oder Ideenkerne‹ zu stoßen, bedarf einer radikalen Begegnung mit uns selbst. Für mich ist die ›Theorie U‹ einerseits zu einer Rahmensetzung als auch zu einer Methode geworden, sich aufzumachen auf den Weg zu einer solchen Begegnung. Wenngleich meine ›Sehnsucht‹, mich gemeinschaftlich auf diesen Weg zu machen, nur in kleinen Momenten erfüllbar sein mag – und daher mein Appell: »… engagiert Euch für Sachen, die ich nicht mehr machen kann …« (In Memoriam Stéphane Hessel in Genius-for-all.de) – bin ich froh, etwas von der Radikalität der Frage nach mir selbst, gerade auch nach meinem ›professionellen Selbst‹, im Durchgang durch das Nadelöhr am Grunde des U kennengelernt zu haben. Seitdem symbolisiert für mich das ›U‹ einen ›modus vivendi‹, eine Weise zu sein und zu leben.

  • Transparenz

    Das ›Zeichen ⮍‹ dem Leben – dem persönlichen, gemeinschaftlichen, institutionellen, ökonomischen, politischen, spirituell-kulturellen – als Symbol für Wandlungsprozesse wie ein ›Wasserzeichen eingelegt‹, vermag dieses Leben ›transparent‹ werden zu lassen, ohne, wie in einem weißen Blatt Papier, die uneingeschränkte Pluralität von Beschriftungen zu ›stören‹. Gebser würde sagen: ›Ursprung und Gegenwart werden auf diese Weise sichtbar‹. Sich darüber auszutauschen mit je eigenen Lebens­texten, wird aufregend. Natürlich auch mit der Möglichkeit ›defizienter Benutzung‹ und um im Bild zu bleiben: ›Papier ist geduldig‹.

  • Synthese
    Wissenschaft

    Soziale Evolution

    Erden des Selbst

    Social Fields als die Plattform, für eine Synthese von Wissenschaft, sozialer Evolution und Werden des Selbst – dies betrifft jeden Menschen. Die Über­setzungsarbeit dieses Prozesses in verschiedene Kulturen und auf diverse Menschengruppen bezogen, ist zu leisten.

  •  Festzuhalten lassen sie sich auf einer ›Unter-lage‹ mit dem ›Wasserzeichen ‹.
  • cooperative

    Während ich selbst (zu) lange eher ›emeritenhaft‹ gearbeitet habe, ist nun eine Zeit angebrochen, in der sich Menschen verbinden und verbünden. Es ist eine Zeit des ›co…‹, des einander Mitteilens und vorbehaltlosen Teilens.

  • Mitte finden – Du musst dein Leben ändern

    Wo sind für solche Fragestellungen von ›Inklusion‹ Initiatoren und Partner auf diesem Weg in und durch eine sich verändernde Welt? Wie lassen sie ich finden? Was geht in ihnen vor? Otto Scharmer berichtet, wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihm deutlich wurde, was in seinem Leben ›falsch lief‹. Er berichtet: »Ich rannte in zu viele unterschiedliche Richtungen, war in zu vielen Projekten an zu vielen verschiedenen Orten gleichzeitig tätig, wovon jedes Sinn ergab, aber all das war kein Ganzes, es fehlte die Mitte« (Scharmer, 2009, S. 457).

  • Erweiterte Wissenschaft Gemeinschaften: intrauniversitär – interuniversitär

    Lässt sich diese Frage nicht analog an viele ›Unternehmungen zur Inklusion‹ stellen? Scharmer fährt dann fort: »In diesem Augenblick, als die Botschaft – Du brauchst eine neue Mitte; du musst Dein Leben ändern! – für mich deutlich wurde, konnte ich auch plötzlich sehen, worauf ich mich konzentrieren sollte. Nämlich auf ein einziges Projekt: einen Ort und eine lebendige Gemeinschaft zu schaffen, die ihre Energie darauf verwendet, Grundlagen für eine erwei­terte Wissenschaft zu entwicklen, in der Aktionsforschung, Aufmerksamkeitsveränderung und angewandte soziale Transformation als Aspekte eines einheitlichen Grundvorganges integriert werden« (Scharmer, 2009, S. 457).

  •  Die zukünftigen WegbereiterInnen der Inklusion sind auf solche Gemeinschaften angewiesen. Werden sie intrauniversitär und interuniversitär entstehen?
  • Presencing Community

    Für mich ist heute die ›Presencing Community‹ (www.presencing.org) Vorbild für so charakterisierte Gemeinschaften geworden. Über Details habe ich an verschiedenen Stellen berichtet. Teilnehmen und Erfahren lassen sich deren transformierende Aktivitäten über verschiedene online Angebote – ohne finanziell belastet zu werden, da kostenfrei! Dieser Weg ist für mich – obgleich einer Generation zugehörig, die nicht ›ab ovo‹ mit den Provokationen und ›Verführungen‹ einer IT-Welt groß geworden ist – ein spannender Pfad geworden, um am Prozess einer digitalen Veränderung der Welt zu partizipieren. Dabei möchte ich noch einmal die fruchtbare Pola­rität oder auch Komplementarität unterstreichen, welche diese Veränderungsimpulse gerade auch im Kontext von Inklusion bewirken. Da ist auf der einen Seite ein sich wandelndes Selbstverständnis einer Wissenschaft und derer, die sie betreiben, die, unter Einbezug Betroffener und im Durchgang durch ein Nadelöhr, den Fragen nicht ausweicht ›Wer bin ich? Was ist meine Aufgabe? Welchen ›Job‹ mache ich? Was ist meine Berufung?‹ Durch ein solches ›Sich-befragen und sich infrage stellen lassen‹ wird der Zugang zu einem Lebens-Raum vorbereitet, der ›aus der Zukunft‹ kommt und Teilnehmende ›frei-schwimmen‹ lässt, ohne alte Kohlköpfe als Proviant auf dem Rücken mitzuschleppen (Maturana & Varela, 1987, S. 268ff.). Hier liegt ein Wandlungsmoment, in dem die Welt der Wissenschaften (der Blick aus der dritten Person) ins Gespräch kommt mit Veränderungen der Struktur des Bewusstseins (Blick auf die erste Person). Solche Verknüpfungen sind dem humanwissenschaftlichen Feld rehabilitativer Fragestellungen zumindest implizit nicht fremd. Was meines Erachtens fehlt, ist auf der anderen Seite jene Befreiung aus der selbsterrichteten Schutzzone ›Sonder… oder Heil…‹ oder auch aus der Schmollecke der selbst konstruierten Sorge um einen ›nicht inkludierbaren Rest…‹. Warum Schmollecke? Weil sich Experten noch immer in der ›Opferrolle‹ abgeschobener Hüter von Sonderinstitutionen sehen, anstatt sich von ›Imago-impulsen‹ anstecken zu lassen und zu erkennen, welche Potenziale aus der Zukunft sichtbar werden, wenn der Schmetterling erst einmal seiner Geburtsstunde gewahr wird und sich mit anderen zusammen wagt abzuheben und eine Schmetterlingsperspektive zu gewinnen, die er bisher nicht kennt.

  • Soziale Transformation

    Was fehlt, ist die Erkenntnis, dass heute ein Brückschlag notwenig und möglich ist zwischen einer erweiterten – transtheoretischen – Wissenschaft und einer Aufmerksamkeitsveränderung durch eine ›angewandte soziale Transformation‹ (der Blick aus der zweiten Person), also für einen sozialen Wandel! Das Feld ist vorbereitet, die Ära der Ritterburgen zu beenden, sich nicht mehr abzugrenzen oder vor Goliath zu kapitulieren.

  • Welt ohne Gegenüber

    Ich stimme Scharmer auch darin zu, dass es einen Kampf der Kräfte in unserer Zeit gibt. Es ist eine ›geistige Auseinandersetzung‹, die stattfindet, ›in einer Welt ohne Gegenüber‹. »Die Welt ohne Gegenüber ist nicht die Welt des Nichts, der Leere, der Inhaltslosigkeit, der Haltlosigkeit, der Beziehungs­losigkeit. Die Welt ohne Gegenüber ist eine Welt der Durchsichtigkeit, die unverstellt und unbegrenzt dem geistigen Auge das Ganze in seiner Transparenz, in seiner Diaphanität wahrnehmbar macht. Sie ist eine Welt der unverstellten Fülle« (Gebser, 1976, V/I, S. 279).

  • U-school

    U-school bildet den Ausgangspunkt für eine Aktionsforschungsuniversität, die auf lokalen, nationalen und globalen Pfeilern errichtet werden soll. U-Labs sind Lernplattformen zu Verknüpfung von change maker. Hubs sind Gemeinschaft vor Ort (Scharmer, 2018, S. 128ff.).

  •  Das Wasserzeichen findet in seiner Transparenz (s)ein Analogon in der Lichtigkeit und Leichtigkeit des ›Schmetterlingsfluges‹ meines Freundes Nicola Cuomo, aber auch ›im Orkan‹: »… der Schlag eines Schmetterlingflügels (kann) die Dynamik der globalen Wetterverhältnisse beeinflussen« (Perlas, 2009, S. 243). So gesehen kann der ›Kulturschöpferische Weg des Menschen mit schwerer geistiger Behinderung‹ (Soulis, 1996) als ein inkludierender Pfad welt-bewegend werden.

Schöpfungsprozess ›humanisierender Seiten‹

Ein (zu) pathetischer Abschluss? Ich bemühe noch einmal Stéphane Hessel: »… engagiert Euch für Sachen, die ich nicht mehr machen kann …«

Wenn es aber wirklich werden soll, was Frank J. Müller mit seinen Studierenden plant, nämlich Fäden der hier zu Wort gekommenen Generation aufzunehmen, um sie weiterzuspinnen –, dann bin ich (doch noch) dabei – soweit es die geistigen und physischen Kräfte zulassen –, Orte zu suchen, Partner aus unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Feldern anzusprechen um, – analog einem Papierschöpfungsprozess – mitzuwirken am Schöpfungsprozess »humanisierender ›Seiten‹ des Anthropos, unterlegt mit einem ›Wasserzeichen ‹. Auf ein solch ›blankes Blatt von Gegenwärtigkeit‹ lässt sich all dies festhalten, was als ›Kultur der Inklusion‹ werden will. ›Zukunft Inklusion‹ – ›in need of us‹ – wird so zu einem Tor für jede und jeden, ihr und sein ›destiny or purpose‹ zu entdecken und sich mit anderen gemeinschaftlich auf die Reise zu machen, hin zu jener emergierenden ›Kultur der Inklusion‹!

Get involved

Noch einmal taucht jener erste Tag vor dem Gebäude der Heilpädagogischen Fakultät auf, als ich auf dem Weg zum Hörsaal I und zu den einen ›Schein-erwartenden Studierenden‹ war. Ich wusste nicht, was werden würde. Mehr als vier Dekaden sind vergangen. Es ist eine aufregende und kostbare Zeit, für die ich allen, die mir auf dieser Zeit-Weg-Strecke begegnet sind, dankbar bin. Eine ›transcendent order‹ wird diaphan, durchsichtig.

Eine Zukunft will ankommen und es fühlt sich an wie: Jetzt kann es richtig losgehen. »Get involved!« (Scharmer, 2018, 157)

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