Günter Dörr hat 1998 ein Buch herausgegeben mit dem Titel Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik. Mein dortiger Beitrag stand unter dem Thema »Vom Menschen mit geistiger Behinderung zum Menschen mit besonderen Erziehungsbedürfnissen«. Die folgenden Ausführungen wollen damit fortfahren, nach neuen Perspektiven Ausschau zu halten. Allerdings stelle ich mir heute die Frage, ob es der richtige Weg ist, (nur) in der Sonderpädagogik weiter nach neuen Perspektiven zu suchen. Ist es nicht eher angezeigt, allgemein in der Pädagogik die Horizonte zu verschieben? Und wenn wir uns darum bemühen zu erkennen, dass wir den Perspektiven einer neuen Pädagogik verpflichtet sind, die Eine Gesellschaft für alle ohne besondere Bedürfnisse vorbereiten können, dann entsteht hieraus ein schöpferisches Ethos für die Zukunft.
Mit der Herausgabe des Buches Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik hat sich Günter Dörr von seiner »langjährigen offiziellen Tätigkeit als Vorsitzender eines Betroffenen- und Elternverbandes«, wie er es im letzten Satz seines Beitrags ausdrückte, verabschiedet. Aber zu Ende geführt hat er den Satz ganz anders: »… nicht aber (verabschiede ich mich) aus meiner Verantwortung für Menschen, die mir die liebsten geworden sind.« (Dörr, S. 17). Sein Plädoyer zum Thema »Wie viel Würde braucht der Mensch? Anforderungen der Sonderpädagogik auf dem Weg zu einem sozialen Gemeinwesen« unterstreicht den Ernst dieser von ihm genannten Verantwortung. Es ist wichtig zu begreifen, was Dörr meint, dass nämlich der Dialog – ob verbandsbezogen, bildungspolitisch oder wissenschaftstheoretisch ausgerichtet – um Fragen des Verständnisses von Behindertsein fortgeführt werden muss, weil es um neue Impulse geht und um die Zukunft.
Wenn es um Zukunft geht, dann erinnere ich gerne an das Verständnis, das Martin Heidegger von Zukunft formulierte. In Sein und Zeit betont er, dass Zukunft nicht als eine Einheit im zeitlichen Strom zu verstehen sei, die eben noch nicht ist und auf die wir zugehen, sondern »die ursprüngliche und eigentliche Zukunft ist das »Auf-sich-zu« (Heidegger, 1963, S. 330). Damit ist ausgedrückt, dass der Mensch »sich« aus der Gegenwart und aus seiner Vergangenheit »vorauswirft«, um von dort her auf sich zuzukommen: Zukunft. Wir selbst sind »normalerweise« in einem Zeitverständnis befangen, das man hat und das durch die sogenannte »Uhrenzeit« bestimmt ist. Die Uhrenzeit ist eine »ablaufende Zeit«. Der Übergang vom zweiten in das dritte Jahrtausend hat dies besonders deutlich gemacht. Weltweit wurde spekuliert, was denn da eventuell passieren könnte, weil der Ablauf der Zeit nicht voraussehbar gewesen war. Die Zeit, von der Heidegger spricht, hat eine ganz andere Qualität – sie ist eine durch die Existenz des Menschen bestimmte. Zeit ist hier Zeitlichkeit. Durch die »Sorge«, welche die Seinsganzheit des Daseins bestimmt, sind auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existenzielle »Größen«. »Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ›Auf-sich -zu‹, des ›Zurück auf‹, des ›Begegnenlassens von‹« (Heidegger, 1963, S. 328f.).
Dieser Hinweis bedeutet kein »philosophisches Abdriften«, das gerne als unrealistisch und ideell missdeutet werden könnte. Mit diesem Hinweis auf Heidegger möchte ich die Bedeutung unterstreichen, die in unserem eigenen Denken – von der Zukunft her auf unsere Gegenwart zu – liegt. Ich bin der Überzeugung, dass es gegenwärtig in besonderer Weise darauf ankommt, welche Sichtweisen wir in die »Zukunft voraus werfen«. Indem wir »von dort-her« auf die Gegenwart »zukommen« – ohne die Vergangenheit, das Gewordene außer acht zu lassen – wirken wir mit an den Metamorphosen einer Pädagogik und auch einer Gesellschaft im weiteren Sinne.
Die folgenden Gedanken sind in diesem Zusammenhang zu verstehen. Ich habe Impulse von anderen aufgenommen, die mein Denken verändert haben und die langsam beginnen, mein Handeln zu bestimmen.
Behindert sein als ein Konstrukt
Ich habe an anderer Stelle hervorgehoben, dass es unsere zukünftige Aufgabe sei, »zu einer Überwindung der defizitären Sichtweise behinderter Menschen zu finden« (Dörr, 1998, S. 58). Diese Forderung provoziert und verpflichtet zugleich. Die Antwort auf die Provokation und die Verpflichtung stelle ich an den Anfang meiner Ausführungen. Anders ausgedrückt: Ich nenne die »Lösung« – und danach Wegstücke, die zu ihr führen sollen. Die Lösung mag zunächst als brachial oder als martial erscheinen, brachial wie der Umgang des Columbus mit dem Ei, martial wie die Lösung des gordischen Knotens durch Alexander den Großen. Aber in beiden Verhaltensweisen liegen schöpferische Elemente, die auch wir benötigen. In Anlehnung an Georg Feusers These: Geistigbehinderte gibt es nicht, wiederhole ich diese These und verallgemeinere: Behinderte gibt es nicht. Menschen mit Behinderungen gibt es nicht. Diese Sicht werfe ich – im Sinne Heideggers – voraus, um Positionen verändern zu können. Natürlich weiß ich, wie »gefährlich« es ist, etwas thesenartig so zu formulieren. Ich verstehe die These als »geistigen Zündstoff« über den Tag hinaus. Die These beabsichtigt, dass wir uns bewusst werden, welche Bemühungen und Aktivitäten in den letzten Jahrzehnten unternommen wurden, um Menschen mit sogenannten Behinderungen anders sehen zu lernen und sie durch ein sich wandelndes Denken bedingungslos und inklusiv als jeglicher Gemeinschaft zugehörig zu erkennen.
Der wissenschaftliche Diskurs verpflichtet zur rationalen Begründung obiger These und zum Nachweis ihrer Stimmigkeit. Diese Verpflichtung kann ich an dieser Stelle noch nicht einlösen. Woran ich arbeite sind Hinweise, die den Zugang zum Diskurs eröffnen können: Hier gehe ich von Bewegungen innerhalb der Weltgemeinschaft aus, orientiere mich dabei an der Sicht Betroffener, versuche anzudeuten, inwiefern Behinderung immer mehr als Konstrukt bewusst werden kann, um erneut anzuknüpfen an die Chance und Notwendigkeit globaler Netzwerke und deren GENIUS.
Impulse der Weltgemeinschaft
In einer Zeit globaler Relationen ist es berechtigt, zuerst von der Politik der Weltgemeinschaft auszugehen, weil sie trotz aller Partikularismen das Wagnis unternimmt, alle Menschen dieser Welt anzusprechen. Wandlungsimpulse gab es vielfältig: Ich nenne die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 1980 u. a. auf die Differenzierung von Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap) aufmerksam gemacht hat. Zahlreiche Impulse gingen auch aus vom Jahr der Behinderten 1981 und der Dekade der Behinderten, die 1993 zu Ende ging. Die Weltkonferenz »Erziehung für alle« (EFA) in Jomtien 1990, die Standard Rules für die Herstellung der Chancengleichheit Behinderter 1993, die Salamanca-Weltkonferenz 1994 »Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität«, 1998/99 das Jahr des älteren Menschen mit dem Ziel einer »Gesellschaft für alle« und das Welt-Erziehungs-Forum »Erziehung für alle« 2000 in Dakar waren und sind Initiativen, die nicht ohne Wirkung bleiben, weil sie mehr als nur appellieren wollen.
Hier ist ein »weltumspannender Geist«, ein GENIUS am Werke, dessen Wirkung wir uns nicht zu entziehen vermögen. Es ist ein Geist allerdings, der sich in der Weltgemeinschaft, der es um die ganze Menschheit geht, – das »Integrat« als einem Menschheitsprinzip, wie Jean Gebser es formulierte (Gebser, 1975) – noch läutern muss im Rekonstruktions-, Dekonstruktions- und Neukonstruktionsprozess normativer Bedingungen.
Die Weltgesundheitsorganisation postuliert Gesundheit als körperlichseelisch und -geistiges Wohlbefinden. Im Kontext von Menschen mit Behinderungen trifft sie eine interessante Differenzierung, sie unterscheidet nämlich drei Stufen: Impairment (Schädigung), disability (Beeinträchtigung) und handicap (Behinderung). Die Standard Rules von 1993 machen bereits auf Relativierungen aufmerksam, welche durch Erfahrungen und Diskussionen im Laufe der Dekade der Behinderten das Wissen um Behinderungen vertiefte, sowie die Terminologie hinterfragte. Auf unsere These bezogen: Behinderte gib es nicht, gehen wir auf die WHO und die Standard Rules kurz ein. Es werden von uns nicht nur die Behinderung und die Beeinträchtigung infrage gestellt, sondern auch die Schädigung (impairment).
Woher nehmen wir die Legitimation – als sogenannte Nicht-Behinderte – zu sagen: Ein Mensch mit Trisomie ist geschädigt, ein Autist ist geschädigt, ein Blinder, Gehörloser ist geschädigt, ein Geistigbehinderter ist ein Hirngeschädigter. Woher also die Legitimation, wenn nicht aus mental geprägten Machtverhältnissen? Diese Machtverhältnisse drücken sich darin aus, wie wir uns als denkende Wesen verstehen. Wenn wir uns als Menschen dem Paradoxon ausgesetzt sehen, dass wir nur denkend unser Denken erfassen können, dann wird die Frage nach den Wurzeln dieser Zirkularität entscheidend. Wenn wir uns heute, auch im Kontext von Alltäglichkeit, nicht der zirkulären Verbundenheit unserer biologischen Wurzeln und unserer Erkenntnisfähigkeit bewusst werden, finden wir aus dem Dilemma impairment – disability und handicap nicht heraus. Wir können uns dann nur mit »defensiver Argumentationsabgrenzung« begnügen. Aber eine solche Abgrenzung führt uns nicht wirklich weiter!
»Wundwundwund schrie ich …«
Ich versuche mit der Hilfe Betroffener selbst den Problemen näher zu kommen. Ich beginne mit Katja Rohde, die mich im Kontext der Veröffentlichung ihres Buches in französischer Sprache angesprochen hatte.
Sie hat mir den Wunsch nach einem Vorwort brieflich mitgeteilt:
»Lieber sir dreher, offenheitsgedanken ergaben nüchternes skeptisches mißtrauen gegen manchen ärgerlichen Vorwurf, den ich Wissenschaftlern und Spezialisten machen mußte. Auzas, die Verleger in saint cyr, sind jedenfalls auf Unglauben gestoßen, als sie von mir erzählt haben. Verstehen kann ich solche Reaktionen. Da ich für französische Autisten vielleicht dieselbe Funktion haben werde, wie Birger sie hier hatte und auch Dietmar, finde ich die Idee von auzas gut, dem Buch ein Versachlichendes Vorwort voranzustellen. Vielen, vielen dank, daß sie sich dazu bereitfinden …«
Katja fragt an und bedankt sich also beim »Spezialisten«, der es ja wohl wissen muss, was es mit Autismus »auf sich hat«. Ihr eigenes Wissen- »offenheitsgedanken«- und ihre existenzielle Befindlichkeit scheinen damit verglichen sekundär.
»Versachlichend« soll mein Wort also sein. Aber um welche »Sache« geht es denn? Was soll denn »sachlicher« werden und damit auf etwas Bezug nehmen, was wohl »nicht so ganz sachlich«, was vielleicht sogar »unsachlich« sein könnte, weil es wohl zu »persönlich«, zu »subjektiv« ist. Welcher Blick suggeriert uns denn »persönlich= unsachlich«?
Vielleicht soll mein (Vor-)Wort eine Antworthilfe sein auf Katjas Frage: »Bist Du nun erstaunt, o Leser, Realitätsseltenes glauben zu sollen?« (Rohde, 1999, S. 58) Denn »realitätsselten« ist es schon, wenn ein Mensch, der mehr als zwanzig Jahre durch pädagogische Sonderinstitutionen gegangen ist, von sich behauptet, er sei gebildet und könne seit seinem fünften Lebensjahr lesen. Wenn dieser Mensch von uns verlangt, etwas zu »erkennen, ohne es erklären zu wollen«, wenn ein Mensch – als geistig Behinderter diagnostiziert – durchleben muss, was es bedeutet: »Ich wurde in meiner Art nicht erkannt« und sich darauf (aus seiner Sicht) konsequent verhält:
»Feature bildend vom Idiötchen, das Theater machend Ärger bedeutet, säte ich Trauer und Not. Ich schrie. Wundwundwund schrie ich, ufersdunkle Verzweiflung furchtbarer Art ließ mich schreien, ich Igelkind gab denjenigen, die meine Schwachsinnbehinderung immer wieder diagnostiziert hatten, Recht durch Igelverhalten« (Rohde, 1999, S. 68).
Denn Katja hatte erkannt, dass nur ein Umdenken von außen, eine Metamorphose – und nicht ohne Grund ist dies vielleicht das wichtigste Thema in ihrem Leben – einen Gestaltwandel herbeiführen konnte, ein Aufgeben des Festhaltens am »kaputtmachenden Glauben, Autismus wäre Armut im Geiste« (Rohde, 1999, S. 75).
Angebracht aber ist es zu begreifen oder zumindest zu erahnen, dass hier ein »Zündstoff« der »conditio humana« enthalten ist, der einen »emotionalen und mentalen Brand« in den Menschen entfachen möchte und insbesondere in den Experten.
»… von einer anderen Seinsweise fehlt mir einfach jede Kenntnis.«
Ein Auszug aus einem Essay von Fredi Saal (1998) mit dem Titel »Behindertsein – Bedeutung von Würde aus eigenem Recht, oder: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als Postulat der Vernunft« mag auf die Radikalität im Sinne der Verwurzelung unseres Denkens in einem Postulat hinweisen, das besagt: »Das Leben muss sich im Interesse des eigenen Seins als ganz und gar unangreifbar erweisen« und »durch das, was ich als unauswechselbares Individuum bin, habe ich meine eigene, durch nichts zu erschütternde Bedeutung«.
Fredi Saal schreibt:
»Ich erlebe mich als mich mir gegeben. Aus diesem Mich-mir-Gegebensein kann ich nicht aussteigen – wenigstens solange nicht, wie ich Wert darauflege, weiterhin am irdischen Daseinslauf teilzunehmen. Ich kann niemand anders sein oder werden als jener, der ich in mir angelegt bin – mit allen Ecken und Kanten, mag ich mich auch noch so sehr dagegen sträuben. Von einer anderen Seinsweise fehlt mir einfach jede Kenntnis. Ich bleibe stets auf das Vorhandene verwiesen. Es steht mir nicht frei, mich selbst gegen einen anderen einzutauschen. Die Gnade des Daseins kann also nicht darin liegen, nicht behindert oder sonst wie ›anders‹ zu sein. Es gäbe mich dann nicht. An meiner statt fungierte ein Anderer, der mir stets fremd bliebe, selbst wenn er meinen Namen trüge. Die Gnade des Seins liegt nicht im Allgemeinen, sondern in der Art und Weise, wie ich mir selbst gegeben bin. Wenn also eine Behinderung dazu gehört, zählt sie selbstverständlich zu den Konstanten, die meine individuelle Existenz ausmachen. Ich finde sie vor als meine Daseinsbedingungen wie ich alles andere in der Welt vorfinde, das sich mir als mein Schicksal darbietet. Daraus gestaltet sich mein Dasein ganz gleich, ob ich es in größtmöglicher Freiheit ergreife oder ob ich mich in ihm von anderen Mitlebenden bereitwillig wie auf einem Spielbrett von einem Feld zum anderen schieben lasse. Im einen Fall sehe ich mich immer wieder auf Festlegungen von außen verwiesen, im anderen bleibt mir stets die Zukunft als offene Möglichkeit mit den meinem Dasein innewohnenden Perspektiven … Dadurch ist jedes menschliche Dasein in seinem Wesen nach allen Richtungen offene Möglichkeit – und zwar bis zum letzten Atemzug. Das gilt für jedes, also auch für jedes anscheinend unansprechbare, menschliche Individuum auf je eigene Weise. Dabei unterliegt es weder einer allgemeinen noch einer individuellen Form. Es lässt sich auf nichts und von niemandem festlegen. Das widerspräche der konstatierten Offenheit« (Saal, 1998, S. 59f.).
Fredi Saal drückt hier auf sein Leben bezogen aus, was Levinas mit der »Verantwortung angesichts des Anderen« meint. »Ich erlebe mich mir gegeben« und »von einer anderen Seinsweise fehlt mir einfach jede Kenntnis« sind Formulierungen, die nicht eindrücklicher die Unantastbarkeit und den Spielraum des einzelnen Menschen beschreiben könnten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir nichts miteinander zu tun hätten. Aber es ist zu unterscheiden, ob der Andere zur Schachfigur wird – ausgesetzt dem Verschieben von einem Feld zum anderen, von der »Schädigung« bis zur »Behinderung« – oder sein Leben in größtmöglicher Freiheit ergreifen kann durch eine gegenseitige Offenheit aller, die Zukunft garantiert. »Ohne Zweifel entwirft der Mensch sich selbst. Darum müssen wir höllisch aufpassen, dass er nicht vom anderen entworfen wird« (Saal, 1998, S. 65). Das Spannungsverhältnis von gelebter Lebenswirklichkeit und von außen definierter Faktizität könnte eindringlicher nicht ausgedrückt werden. Es wird eine der wichtigen Aufgaben der kommenden Zeit sein, sich mit diesem Spannungsverhältnis, mit dieser Ambiguität (Zweiseitigkeit I Doppelwertigkeit) auseinanderzusetzen.
»… gegenwärtiges Ammenmärchen vom geistig behinderten Autisten«
Katja Rohde und Fredi Saal sind Zeugen einer persönlichen Lebensdeutung, welche die – »Selbstwahrnehmung« zumindest als ebenso wichtig und richtig erkennen, wie die Deutung des persönlichen Lebens von außen, also durch den anderen. Diese Deutungen von außen charakterisieren durchgängig wissenschaftliche Fragestellungen und verleihen ihren Aussagen – trotz kritisch rationaler Haltung – den Nimbus der Gewissheit. Diese Gewissheit infrage zu stellen, fällt uns schwer. Die beiden chilenischen Wissenschaftler Maturana und Varela machen auf Grundlagen der menschlichen Erkenntnis aufmerksam, welche die biologischen Wurzeln des Erkennens – und damit auch die »biologische Dimension« des sogenannten »geschädigten« Menschen – in die Kontinuität zum Sozialen und Menschlichen stellen, und das Phänomen der Erkenntnis so als Ganzheit »Natur und Geist« darzustellen vermögen. Ihre Epistemologie – auf die an dieser Stelle nicht eingegangen wird – ermöglicht eine andere Sicht auf die conditio humana und sie ist eine Einladung dazu, gewohnte Gewissheiten loszulassen. Damit nähern wir uns zumindest unserer Eingangsthese: Behinderte gibt es nicht! Und wir müssten hinzufügen: Behinderte werden durch uns konstruiert!
In Katjas Sprache hört sich das so an:
»Ihr solltet offenbar gegenwärtige Ammenmärchen vom geistig behinderten Autisten nicht so leichtgläubig akzeptieren, auch wenn das für Euch einfacher ist, weil es Euch Wesensveränderungen Eurer eigenen, d. h., der Lehrerperson erspart, Euch Arbeitsaufwand saftiger Art nicht abverlangt. Lebensnotwendiges Arbeiten gelingt Euch sicher, wenn ihr Autismus mit seinen lästigen Symptomen, zum Beispiel ärgerliches Zappeln, Aggressivität, Apathie, Sprachlosigkeit, als Herausforderung seht, furchtbar für die Autisten, hoffnungsvoll für Euer Erleben einer Realität, die qualvoll ist für die Betroffenen, die Euch aber eine tiefere Dimension erschließt« (Rohde, 1999, S. 147).
Warum fällt es aber den sogenannten Experten so schwer, sich solchen Umdenkungsprozessen zu öffnen? Warum zweifeln sie an der Authentizität von Katja? In diesem Verstehensprozess kann uns der russische Psychologe Wygotski weiterhelfen (Keiler, 1998).
Schon in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts hat er darauf aufmerksam gemacht, dass »sich die menschliche Kultur nur wegen einer gewissen Stabilität und Konstanz der biologischen Grundausstattung des Menschen (habe) immer mehr anreichern können …« Wo nun eine, wie auch immer begründete bzw. definierte Schädigung bzw. Beeinträchtigung eintritt, führt dies zu einer Umstrukturierung der Entwicklung und entstellt den »normalen Verlauf der Einwurzelung des Kindes in die Kultur …« Die Konsequenz daraus führt zur »Schaffung von Nebenwegen der kulturellen Entwicklung« (Keiler, 1998, 158f.). So ist auch Katjas Lebensweg ein solcher einer kulturellen Schöpfung auf Nebenwegen, die aber zwei Jahrzehnte verkannt wurde, weil der Blick nur an der Diagnose und an ihrem Verhalten haften blieb und kein Weg gefunden werden konnte, die Umstrukturierung ihrer Entwicklung zu erkennen, diese als sinnvoll zu akzeptieren und sich darauf pädagogisch zu beziehen.
»Meine Kindheit irreparabel geschädigt, Möglichkeiten, ohnegleichen vertan, zu tiefst gedrückt, Lustlosigkeit auslösend, statt Liebesbeweise bewirkend, zerfreute ich Mutter und Vater. Quälerei ist, daß ich nicht mehr weiß, weshalb tastendes Kopfgefühl hurtig in mich eindrang, hurrikanartig mein armes Gehirn überfallend. Ohne gutes grünes ergiebiges Fühlen, hilfsloses ›Biffarhaustüren, das ist sicher‹ Denken meiner Eltern auslösend, wurde ich größer« (Rohde, 1999, S. 60).
Der Blick der Umwelt fiel auf Symptome und erzeugte Hilflosigkeit gegenüber der Möglichkeit der Erkenntnis des Hungers nach kultureller Teilhabe:
»Das ohnmächtige, Ohnmacht hassende, gastfreundliche, siegesduftende Lebensgefühl meiner Mutter fand aquamarinblaues Hoffen durch eine Fülle an Therapien, sedierend, doch ineffektiv … Zur giftigen Hilflosigkeit meiner Mutter gesellte sich Hilflosigkeit der Umgebung … Meine Lehrerinnen und Lehrer … sahen mein autistisches Verhalten als Schwachsinnsdokumentation an« (Rohde, 1999, S. 66ff.).
Um solche Irrtümer nicht zu wiederholen, wird es Aufgabe einer zukünftigen Pädagogik sein, dass wir, die wir in einer selbstverständlichen Welt der Kulturschöpfung leben, getragen durch unsere psychophysiologische Konstitution, uns dem als »geschädigt« definierten Menschen öffnen, damit seine Entwicklung von ihm keine Nebenwege der Kultur abzuverlangen braucht. Wenn alle in der Gemeinschaft verbundenen Menschen erkennen, dass wir nur die Welt haben können, die wir mit anderen zusammen hervorbringen, werden sich zukünftig gemeinsame Lebensräume gestalten lassen. Dies ist gewiss keine einfache Aufgabe, aber sie lässt uns Abschied nehmen vom »Wahn der objektiven Weltwahrnehmung«, vom irrigen Helfen wollen und lässt uns hoffentlich ausbrechen aus selbst konstruierter professioneller Unersetzbarkeit und Unfehlbarkeit. »Die einzige Chance für die Koexistenz ist also die Suche nach einer umfassenderen Perspektive, einem Existenzbereich, in dem beide Parteien in der Hervorbringung einer gemeinsamen Welt Zusammenfinden« (Maturana & Varela, 1987, S. 264). Noch einmal: Dies ist kein einfacher Weg, weil er von uns abverlangt, eine Welt der Vielfalt zu akzeptieren und in ihr entsprechend zu handeln. Katja drückt es in ihrer Wahrnehmung so aus:
»Zur fragenden Urgestalt der Igelexistenz kommt der Wasserwasserregen ohne Trara, wenn es Menschen gelingt, ohne Ufersfurcht, ohne Angst, anzuecken, mit mir unter wirren Bedingungen zu leben, mir durch ihres Istgefühles Forderungshaltung, durch die gute Realitätsanpassung, durch Lust an der Wirklichkeitsgestaltung in Fairneß hefewarmes Lebensgefühl zu vermitteln, ohne daß ich nur Ergebnisse ihrer Planungen akzeptieren muß. Offenes Diskutieren richtet weniger Schaden an als bevormundendes Heimlichtun. Wer mir helfen will, soll ehrlich zu mir sein, sonst geht das Hefegefühl verlustig« (Rohde, 1999, S. 102).
Eine solche Welt wird es »Igelstacheln« ermöglichen, sich nicht mehr mit Gift füllen zu müssen. »Die Stacheln aber, giftbefreit, wurden zu segensreichen Dornsträuchern, die die Gefährten des Igels vor der Angriffslust der Eris schützten« (Rohde, 1999, S. 162).
Unsere Vergangenheit liegt in der Zukunft
Wir müssen also zu neuen Ufern aufbrechen. Mit welchen Fähigkeiten und mit welcher Risikobereitschaft?
Maturana & Varela erzählen eine Geschichte, wie man schwimmen lernen kann, um zu neuem Ufer zu gelangen. Der Appell lautet: Mach dich nackt auf den Weg und nimm keinen Ballast mit. Ich füge hinzu: Vergiss nicht, das neue Ufer ist hier, da wo du stehst, hier, von wo Du ablegen möchtest. Ich wage hier ein Analogon zu Heideggers Verständnis von Zukunft. Heidegger schreibt:
»Nur sofern Dasein überhaupt ist als ich bin gewesen, kann es zukünftig auf sich selbst so zukommen, daß es zurück kommt. Eigentlich zukünftig ist das Dasein eigentlich gewesen. Das Vorlaufen in die äußerste und eigenste Möglichkeit ist das verstehende Zurückkommen auf das eigenste Gewesene. Dasein kann nur eigentlich gewesen sein, sofern es zukünftig ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft« (Heidegger, 1963, S. 326).
Hören wir noch einmal Katja:
»Wie es für mich weitergeht, wissen meine Eltern und ich noch nicht. Ich würde gerne auch zur Uni gehen, wenn ich luftiges Igelswesen unter Kontrolle habe, wenn ich nicht mehr stereotype Bewegungen machen muß, wenn Uhus Willen Arsenale an Gelassenheit über meinen armen Tuffsteinkopf schüttet, wenn der kalte Regen über Tomi einem liebesoffenen Südwind gewichen ist, Autismus riesiger, urgestaltender, guter Kraft etwas gibt, was sie schon immer gesucht hatte, so daß Igelstacheln weicher werden, so daß Igelstacheln weichen« (Rohde, 1999, S. 59).
Katja denkt sich voraus und wir sollten uns ihr anschließen.
Perspektiven einer neuen Pädagogik
Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik sind gut, aber nur, wenn sie nicht beschränkt bleiben auf die Sonderpädagogik. Besser ist es, wenn die neuen Perspektiven als (Besondere) Perspektiven einer neuen Pädagogik, einer neuen sozialen Gemeinschaft, einer erneuerten Kultur sichtbar werden. Am besten aber ist diese Perspektive: »Das letztendliche Ziel der Behindertenbewegung ist eine Gesellschaft für alle Menschen, ohne ›besondere Bedürfnisse‹« (EQUATE, Ausgabe Nr. 5, 1999, S. 4). Dies ist die Forderung des Europäischen Behindertenforums, einer Vereinigung von Betroffenen, der ich mich anschließe. Auch diese Forderung ist natürlich in ihrer Diktion wiederum missverständlich und »gefährlich«. Ihr Analogon findet sie in der Feststellung: Behinderte gibt es nicht. Eine Gesellschaft für alle ohne Behinderte mit besonderen Bedürfnissen braucht also eine Umkehr des Denkens und Handelns, die angesichts des Gewordenen, dem Festhalten an Gewissheiten und dem Risiko des Scheiterns provokativ sind. Aber nur auf dem Weg über gewandelte Perspektiven einer neuen Pädagogik finden wir heraus aus dem Labyrinth der defizitären Sicht behinderter Menschen.
GENIUS lnclusion
Heilpädagogik oder Behindertenpädagogik als eine »FOKUS-Pädagogik« vergrößert – bildhaft gesprochen – wie durch eine Lupe die Gegebenheiten und erschwerten Bedingungen der Entwicklung des Menschen und seiner Kultur. In dieser ihrer Aufgabe verbirgt sich immer die Gefahr, eine isolierende oder besondere Pädagogik zu sein oder zu werden. Niedecken (1999) hat dies unlängst an der Institution »Geistigbehindertsein« aufgezeigt. Diese Gefahr wird heute auf internationaler Ebene erkannt, thematisiert und durch die Konzeption einer »Inclusive Education« zu überwinden versucht. Immer noch werden solche Bemühungen als Utopien verschrien. Nehmen wir das Wort Utopie wörtlich, so meint es, dass es sich um »ortlose« Gedanken oder Gebilde handelt, denen in unserer Welt keine Realität zukommt. In diesem Sinne könnte man die Skepsis fast teilen. Aber heute geht es nicht mehr um U-topien, sondern um A-topien. Dies bedeutet, dass solche Impulse nicht an Orte gebunden sind, dass sie »ort-frei« sind, d. h. paradoxer Weise, sie können sich an jedem Ort und unter den jeweiligen Gegebenheiten realisieren. Globale Netzwerke, die sich gegenwärtig bilden, bezeugen die Überwindung von Grenzen und das nicht gebunden sein an Räume. Hier nun schließt sich ein globaler Zirkel, an dem wir weltweit Anteil nehmen können und dessen Geist uns alle beeinflusst. Dabei ist nicht der »Geist« im Sinne Hegels oder in einem transzendenten Sinne angesprochen. Geist meint menschliche Erkenntnismöglichkeiten im Sinne von Maturana und Varela.
Symbolisch nenne ich diesen Geist GENIUS. Hinter diesem GENIUS verbirgt sich konkret der aktive Mensch, der versteht, dass Erkennen Tun und Tun Erkennen ist und aus dieser Erkenntnis mitarbeitet am GENIUS: Global Education Network for an Inclusive Universal Society.
Literatur
Dörr, G. (Hrsg.). (1998). Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik. Düsseldorf: Selbstbestimmtes Leben.
Gebser, J. (1975). Gesammelte Werke in 7 Bänden. Schaffhausen: VERLAG.
Heidegger, M. (1963). Sein und Zeit. 10. Aufl. Tübingen: Niemeyer.
Keiler, P. (1998). Behinderung als pädagogisch-psychologisches Problem und als gesellschaftliche Herausforderung. Zur Aktualität von L. S. Wygotskis defektologischem Ansatz. In H. Eberwein & A. Sasse, Behindert sein oder behindert werden? Interdisziplinäre Analysen zum Behinderungsbegriff. Berlin: Luchterhand.
Maturana, H. R. & Vareia, F. J. (Hrsg.). (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern/München: Scherz.
Niedecken, D. (1999). Die inneren Feinde der Integration. Zur Institution »Geistigbehindertsein«. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 22(6), 79–85.
Rohde, K. (1999). Ich Igelkind. Botschaften aus einer autistischen Welt. München: Nymphenburger.
Rohde, K. (1999). L’enfant herisson. Autobiographie d’une autiste. Paris: VERLAG.
Saal, F. (1998). Behindertsein – Bedeutung und Würde aus eigenem Recht oder: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als Postulat der Vernunft. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 21(4/5), 55–78.